Das Geheimnis der Salzschwestern
– das Recht auf ihr Land, das Geheimnis des Salzes, ihre Schwester. Und sie erfuhr immer erst davon, wenn es längst zu spät war. Wie zum Beispiel an dem Tag, an dem er gekommen war, um Claire zu holen. Das war Anfang Juni gewesen, an einem eigentlich schönen Abend, bis sie Whit dann bei der Scheune entdeckt hatte. Als Jo durch die Marsch stolperte, um herauszufinden, was er wollte, stieg ein kleiner blauer Schmetterling aus dem Schlamm auf und flatterte an ihrem Arm herum. Sie verscheuchte ihn. Die meisten Menschen hätten ihn vermutlich schön gefunden, Jo sah darin jedoch nur eine Plage. Mama hatte immer gesagt, dass sie Unglück brächten, aber andererseits hatte Mama in so vielen Dingen Vorboten des Unheils gesehen. Jo näherte sich der Scheune, erstarrte jedoch, als ihr klar wurde, dass Whit nicht allein war. Ihr stockte der Atem, als sie zu begreifen versuchte, was sie da sah.
Es war Claire. Sie hatte sich das rostrote Haar zum Pferdeschwanz gebunden, und ihre Wangenknochen zeichneten sich so zart ab, als könnte ihnen jeder Windhauch etwas anhaben. Dabei wusste Jo doch, dass Claire innerlich aus Stahl gemacht war. Ihre Schwester schien sich unter Whits Segeltuchjacke zu kuscheln, und sie bewegten sich gleichzeitig, so als würden sie ihre Gliedmaßen neu arrangieren. Jo stockte das Blut in den Adern, als sie begriff, dass Claire und Whit ineinander verschlungen waren, einander mit geneigten Köpfen berührten – es war eine atemlose Haltung, die sie nicht lange durchstehen würden. Das mussten sie aber auch gar nicht, denn Jo stürmte völlig unüberlegt auf sie zu, um Claire vor einem furchtbaren Fehler zu bewahren. Als sie die beiden erreichte, machte Whit gerade eine Hand los und berührte damit Claires errötete Wange, während er ihr in die Augen starrte. Er öffnete den Mund, so als wollte er etwas sagen, und in diesem Moment bemerkte Claire sie und stieß einen hässlichen Laut aus.
Whit drehte sich ein wenig in ihre Richtung, als hätte er sie schon die ganze Zeit dort vermutet, es aber nicht über sich gebracht, sie anzusehen. Er zog Claire an sich, schob sie unter seinen Arm wie ein Vogel, der etwas mit seinem Flügel bedeckte, und sprach dann die furchtbarsten Worte aus, die Jo sich nur vorstellen konnte: »Darf ich dir meine zukünftige Frau vorstellen?«
Jo wartete auf eine Reaktion von Claire – irgendetwas. Dass sie Whit vielleicht eine Ohrfeige verpasste oder wegrannte oder auf die Knie fiel. Aber das tat sie nicht. Stattdessen lächelte sie. Es war kein strahlendes Lächeln, sie bewegte nur ein kleines bisschen die Mundwinkel, so als würde sie sich bereits an ihre neue Position im Leben gewöhnen und ausprobieren, wie es sich anfühlte, eine Turner zu sein. Ein Schmetterling landete auf ihrem Scheitel, und obwohl Jo ihn am liebsten weggewischt hätte, tat sie es nicht. Sie beschloss vielmehr, dass sie Claire schon oft genug gerettet hatte, und trat einen Schritt zurück. Whit ließ mit unverhohlener Abscheu den Blick über ihre entstellten Züge wandern.
»Claire«, sagte er, den Blick auf Jo geheftet, »hol deine Sachen.«
Ohne sie anzusehen, eilte Claire davon, und Jo machte erst den Mund auf, als ihre Schwester sich bereits ein gutes Stück entfernt hatte. Selbst im Taumel des Zorns hatte sie noch immer den Drang, Claire zu beschützen.
»Es wird nicht funktionieren«, beschwor sie Whit. »Auch Claire wird dir nicht zu unserem Land verhelfen. Und die Gilly-Frauen gehen ein, wenn sie dem Salz den Rücken zukehren.«
Whit kam näher. Mit unfehlbarer Logik verkündete er: »Na, dann können wir ja alle froh sein, dass Claire beschlossen hat, eine Turner zu werden.« Er triumphierte. »Meine Mutter hat mir nur verboten, dich zu heiraten, Jo. Von Claire war nie die Rede.«
»Wie willst du für sie sorgen?«, fragte Jo. »Claire denkt, du bist reicher als Midas, aber ich weiß es besser. Was machst du denn, wenn sie feststellt, dass die Kassen der Turners nicht so gut gefüllt sind, wie sie dachte?«
Whit schaute gelangweilt drein. »Claire wird sich fühlen wie im Paradies«, erklärte er und ließ den Blick über die Marsch wandern. »Vor allem im Vergleich hierzu. Eine Frau hat doch wirklich etwas Besseres verdient, und das kann ich ihr wenigstens bieten.«
Was konnte Jo darauf schon erwidern? Claire wollte doch seit jeher von hier weg. Und wenn es nicht an Ethans Seite sein konnte, dann nahm sie eben Whit, den einzigen Mann in der Stadt, der den Mumm hatte, eine Gilly-Frau
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