Das Geheimnis der Salzschwestern
die Ehre?«, wollte sie wissen.
Wenn sie Whit von Nahem sah, wunderte sie sich in letzter Zeit jedes Mal über die Fältchen an Augen und Kiefer und darüber, wie silbergrau sein Haar an den Schläfen wurde. Offensichtlich kam er direkt aus der Kirche, er trug nämlich einen schicken Wollblazer und eine Hose mit Bügelfalte – Kleidung, die ihre Schwester zweifellos sorgfältig für ihn ausgesucht hatte. Sie hielt nach irgendeinem Hinweis auf den Jungen Ausschau, der ihr beigebracht hatte, auf der Hornpfeife zu blasen, der ein Herzass in der Hand verschwinden lassen und dann wieder aus dem Ärmel hervorzaubern konnte, aber von dem war nichts mehr übrig. Stattdessen machte sich Ida in den Zügen ihres einzigen Sohnes immer mehr bemerkbar, als würde sie durch ihn wieder zum Leben erwachen, und einen Herzschlag lang war Jo beinahe dankbar für die Narben, die sich bei ihr über Wange, Stirn und Kinn erstreckten. Von ihrem Gesicht würde nie jemand Besitz ergreifen können, sie würde immer einfach nur sie selbst sein, ob es ihr nun passte oder nicht.
»Ethan Stone kehrt nach Prospect zurück! Steckst du hinter diesem Unsinn?«, fragte Whit. Seine Lippen waren weiß vor Wut.
Sie atmete vorsichtig aus und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Ehrlich gesagt wusste sie nicht, wie sie darauf antworten sollte. Tatsächlich hatte Pater Flynn vor zwei Wochen hier draußen bei ihr auf der Veranda gesessen und ihr anvertraut, dass ihm etwas auf der Seele brannte. Sie hatte ihm eine Tasse Tee eingeschenkt. »Dann sollten Sie sich Erleichterung verschaffen«, hatte sie erwidert und ihm das Getränk gereicht.
Pater Flynn nippte daran und nahm dann noch einen Schluck, während seine Miene immer nachdenklicher wurde. »Was kann man gegen die Leere tun, Liebes?«, fragte er.
Jo probierte selbst ihren Tee. »Na ja, man kann sie ausfüllen, nehme ich mal an.« Ihre Antwort schien dem Pater zu gefallen.
»Genau«, antwortete er und nickte. »Das habe ich mir nämlich auch gedacht.« Er lehnte sich vor und drückte ihr rasch einen Kuss auf die glatte Wange. »Danke. Du sagst eben immer genau das Richtige.«
In dem Moment hatte Jo seine Worte nur als das Gemurmel eines alten Mannes abgetan, aber jetzt fiel bei ihr der Groschen, und ihr dämmerte langsam, dass Pater Flynn vielleicht gerissener war, als sie gedacht hatte. Bestimmt steckte er hinter Ethan Stones Rückkehr. Nicht, dass sie das Whit auf die Nase gebunden hätte. Sie fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen. »Ich wünschte, es wäre so«, sagte sie und sah ihm direkt in die Augen. »Aber die Wege des Herrn sind nun mal unergründlich.«
Whit blinzelte nicht einmal, und da fiel Jo wieder ein, dass er beim Wettstarren früher immer gewonnen hatte, genauso wie bei jedem Kartenspiel, und dass er ihr unfehlbar immer die besten Murmeln abgeknöpft hatte. »Du hast es aber gewusst?«
Sie schaute auf ihre Stiefel hinunter. »Ja«, gab sie zu. »Irgendwie schon.«
Whit zog ein Paar Handschuhe aus der Innentasche seiner Jacke und streifte sie sich langsam über. Auf seinem Handrücken bemerkte Jo blasse Sommersprossen, solche, wie sie sie früher auch gehabt hatte. Sie fragte sich, wie Ethan Stone wohl nach all der Zeit aussehen würde. Er war vor zehn Jahren einmal zur Beerdigung seiner Mutter nach Prospect zurückgekehrt, aber damals war er vor lauter Trauer gar nicht er selbst gewesen. Zur Trauerfeier für seinen Vater war er nicht gekommen, und das konnte ihm auch niemand verübeln. Merrett war schließlich ein gemeiner Kerl gewesen und hatte irgendwie sowieso immer schon mit einem Fuß im Grab gestanden.
Whits Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen, und als er sich vorlehnte, konnte Jo sein Rasierwasser riechen – es hatte ein seltsames Aroma, das sie an feuchte Tinte erinnerte. Er sah sich in der staubigen Scheune um und blickte auf ihre jämmerlichen Salzhäufchen. »Sieht ja nicht so aus, als würde es für dich besonders gut laufen«, meinte er.
Jo antwortete nicht und schob nur das Kinn vor.
»Weißt du«, fuhr Whit fort und verschränkte die Finger in seinen inzwischen feuchten Handschuhen, »es hat sich nichts geändert. Lass mich doch diese Bürde tragen. Du kämpfst hier auf verlorenem Posten, Jo.«
Das stimmte. Dank Claires Unterstellungen und Behauptungen war Jos Kundenstamm im Laufe der Jahre ziemlich zusammengeschrumpft. Um etwas zu verkaufen, musste sie immer längere Wege in Kauf nehmen – beim Zustand ihres Trucks
Weitere Kostenlose Bücher