Das Geheimnis der Salzschwestern
zu heiraten. Jo fragte sich, ob wohl eine glückliche Zukunft vor Claire lag, oder ob sie nach ein paar Jahren in Idas Haus und ihrem Bett auch anfangen würde, zu viel Make-up aufzulegen, sich mit zu viel Schmuck zu behängen und sich auf Dinge zu versteifen, die ihr nicht gehörten.
Sie versuchte, das Bild von Claire in dem großen Haus auf Plover Hill heraufzubeschwören, eingesperrt hinter den eisernen Toren, die Erinnerung an das Salz auf den Lippen, aber es war ihr einfach unmöglich. Sie seufzte. »Claire liebt dich nicht«, stellte sie klar. »Und ich bezweifle, dass sie es je tun wird.«
Whits Miene war mit einem Mal verschlossen wie eine Tür, die der Wind zugeschlagen hatte. Aber er überließ niemandem gerne das letzte Wort. Traurig sah er sie an, und einen Moment lang erahnte Jo den Jungen, der dort in Whits Körper gefangen war. »Liebe kommt und geht, nehme ich an«, murmelte er schließlich. »Sag Claire, dass ich mit dem Auto unten an der Straße stehe. Aber ewig warte ich da nicht auf sie, sag ihr das.« Mit diesen Worten schlenderte er davon. Der Schlamm klebte an den hellen Sohlen seiner Schuhe und erschwerte ihm jeden Schritt.
Claire und Whit hielten sich nicht mit einer langen Verlobung auf. Bereits ein paar Wochen später trudelte in der Marsch eine Hochzeitseinladung mit Goldrand ein. Jo pflückte die Lagen aus Seidenpapier und Leinen auseinander, öffnete Karten und Umschläge und versuchte – erfolglos – auch nur eine Spur von Claire darin zu entdecken.
»Guck mal, Mama.« Jo schwenkte die Einladung. Seit dem überstürzten Aufbruch ihrer Schwester hatte sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter verschlechtert, und sie lag oft im Bett. »Die beiden heiraten in St. Agnes. Ich hätte eigentlich gedacht, sie würden sich etwas Schickeres suchen.« Aber Mama wandte nur den Blick ab und erwiderte nichts, also schickte Jo den Rückumschlag ohne ein Wort aber voller Salz zurück. Nur weil sie nicht an Claires Hochzeit teilnehmen würde, hieß das doch nicht, dass sie die beiden ignorierte. Ganz und gar nicht. Sie plante für Claire sogar ein ganz besonderes Hochzeitsgeschenk.
Am Morgen der Trauung schlich sich Jo aus der Marsch und lief schon früh zur Kirche hinüber, lange vor Sonnenaufgang, sogar noch bevor Pater Flynn sich zum Morgengebet erhoben hatte. In einem Jutesack hatte sie ein Glas Asche, eine Farbdose und einen Pinsel dabei.
Das Schloss an der verwitterten Flügeltür der Kirche war nicht schwer zu knacken – es war alt und hing vor allem da, um den Schein zu wahren und damit der Wind die Türen während eines Sturms nicht aufwarf. Eine Haarnadel, eine schnelle Drehung des Handgelenks, und das alte Schloss gab nach und sprang auf. Jo zog die Haarnadel heraus, schob sie sich wieder in die Tasche und betrat das dunkle Gotteshaus.
Obwohl sie die Mulden und Dellen des alten Fußbodens so gut wie den Schlamm in der Marsch kannte, und obwohl sie den winzigen Mittelgang mit geschlossenen Augen hätte entlanglaufen können, machte sie ganz langsam einen Schritt nach dem anderen. Zum einen, weil sie Pater Flynn in der anliegenden Pfarrei nicht wecken wollte, zum anderen aber auch, weil das leere Oval des Gesichts der Muttergottes in der Dunkelheit zu schweben schien.
»Hallo«, begrüßte Jo die Jungfrau, öffnete das Glas mit Asche und holte den Pinsel aus ihrer Tasche. Es erfüllte sie mit Genugtuung, dass Claire nun zu ihrer Hochzeit in das ihr so verhasste Gotteshaus zurückkehren musste. Sie hoffte, die Erinnerung an Ethan würde ihre Schwester bei jedem Kirchgang an Whits Seite quälen, aber für alle Fälle wollte sie da ein wenig nachhelfen.
Sie zog den Deckel von der Farbdose. Die hatten die Weatherly-Brüder nach dem Aufbau in der neuen Scheune vergessen. Es war dicke, gräuliche Farbe, solche, mit der man Türrahmen abdichtete, aber für ihre Zwecke reichte sie. Jo tauchte die Borsten ein, ließ die überflüssige Farbe abtropfen und trat dann mit dem Pinsel an die Wand.
Sie arbeitete rasch, ohne darüber nachzudenken, fuhr mit so lockerem Strich wie nur möglich über das Bildnis und versah den Kleidersaum der Muttergottes mit sechs Angelhaken, klarer und deutlicher als jedes Wort. Mit keuchendem Atem trat sie einen Schritt von der Wand weg und betrachtete ihr Werk. Reichte das, um Claires Erinnerung auf die Sprünge zu helfen? Würde sie die Verzierungen entdecken und an den Tag denken, als ein Haken in ihrer Hand steckte, den Jo ihr herauszog? »Wer mit Salz arbeitet,
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