Das Geheimnis der Salzschwestern
etwas heißen. Der Priester räusperte sich und verlangsamte seinen Schritt, damit sie hinterherkam. »Nicht mehr mit Claire zu reden bringt doch nichts – es macht weder das Feuer noch ihre Hochzeit mit Whit rückgängig. Wirst du ihr je verzeihen?«
Aus zusammengekniffenen Augen blickte Jo aufs Meer hinaus. Sie sah inzwischen wieder besser, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie nur noch ein Auge hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Nicht dieses Mal. Nein.«
Pater Flynn sackte ein wenig mehr in sich zusammen. Er spielte mit Steinen in seiner Tasche herum, als wären es Worte, die er abwägte. »In letzter Zeit musstest du viele schwere Schläge einstecken«, murmelte er schließlich. »Das ist mir klar. Aber denk daran, dass Gottes Arme weiter reichen und stärker sind, als du je erfassen kannst, selbst wenn du seine Umarmung nicht immer spürst.« Er streckte die Hand aus und berührte Jo am Kinn. Er war bisher der Einzige in Prospect, der auf den Anblick ihrer Narben nicht betroffen reagierte. Jetzt sah er sie prüfend an. »Ich trage dich immer in meinem Herzen, Jo, das solltest du wissen. Gib dich nicht dem Zorn hin.«
Sie ließ den Kopf hängen und bekam plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil sie die Jungfrau so verschandelt hatte. »Aber Wut ist doch das Einzige , was ich noch fühle«, gab sie zu.
Pater Flynn tätschelte sie sanft. »Versuch aber bitte trotzdem, dem Herrn nicht völlig den Rücken zu kehren, auf welchem Wege auch immer.« Dann ließ er sie in den Dünen allein und fragte sich, wer wohl mehr Macht über sie hatte – Gott oder der Teufel –, denn es kam ihm so vor, als ob einer von beiden sie in seiner allmächtigen Faust zerquetschte.
Nachdem Claire Whit geheiratet hatte, wurde Mama immer dünner und schwächer, und Jo wusste, dass ihre gemeinsame Zeit zur Neige ging. Nach ihren morgendlichen Aufgaben in der Marsch legte sie sich deshalb oft zu ihrer Mutter ins Bett und hielt sie im Arm, während sie schlief, um sich ihre ganz individuelle Struktur aus Muskeln und Knochen einzuprägen und niemals wieder zu vergessen.
»Das ist nicht wirklich das Ende«, flüsterte Mama mit letzter Kraft. »Für die Seele ist das nur eine kleine Umstellung. Vergeude deine Zeit also nicht mit Trauer.« Sie atmete tief durch und bedeutete Jo, näher zu kommen. »Versprich mir, dass du hier beim Salz bleibst«, bat sie. »Und dass du auf Claire achtgibst.«
Bei der Erwähnung von Claires Namen biss Jo die Zähne zusammen. »Das übernimmt Whit doch schon, Mama«, sagte sie. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Ihre Mutter starrte sie aus wässrigen Augen an. »Brauche ich nicht?« Dann atmete sie aus und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Sie starb einen Monat später und wurde in der von Unkraut überwucherten Ecke der Gillys auf dem Friedhof in der Stadt begraben. In der Marsch wurden keine Frauen zur letzten Ruhe gebettet – nur die unglückseligen Männer. Jo versuchte, dem Wunsch ihrer Mutter zu entsprechen und nicht zu trauern, es fiel ihr jedoch schwer. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie ganz allein, und überall wurde sie an Mamas Abwesenheit erinnert – in der Scheune hing noch ihre Salzschürze, ihre Kleider in ihrem Schrank, und im Küchenregal stand das bunte Sammelsurium der Tassen und Teller, die sie nach und nach zusammengetragen hatte. Wenn Jo morgens aufwachte, kam es ihr beinahe so vor, als wäre die Stille im Haus lebendig, als ob in den Ritzen der Wände Insekten flatterten und mit tausenden Flügeln schlugen. In solchen Momenten dachte sie oft an Claire. Fühlte die sich in Idas vier Wänden vielleicht genauso seltsam?
Jo setzte sich hin und versuchte, einen Brief an Claire zu schreiben, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also schloss sie Papier und Stift wieder im Wohnzimmersekretär ein. Prospect war schließlich klein genug, und sie war sich sicher, dass Claire die Neuigkeiten schon irgendwie erfahren und selbst entscheiden würde, was zu tun wäre. Sie erwartete keine große Geste, wenn Claire einer Sache den Rücken zukehrte, war das nämlich meistens endgültig.
Am Morgen von Mamas Beerdigung ging Jo allein zu Fuß nach St. Agnes. In einem schwarzen Hemdkleid und so ordentlich gekämmt, wie es eben ging, sah sie ganz vorzeigbar aus. Mit einem Beutelchen Salz und voller Entschlossenheit machte sie sich auf den Weg. Claire würde da sein, aber sie war stark genug, ihren Anblick zu ertragen. Unsere Liebe Frau würde ihr mit
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