Das Geheimnis der Salzschwestern
ihren Angelhaken den Rücken stärken.
Jo war gerade die drei ausgetretenen Stufen der Kirche hinaufgestiegen und wollte eintreten, als sie ihre Schwester sah. Sie kniete zusammen mit Whit in der Bank seiner Familie, und ihre roten Haare glühten wie Feuerwerk. Auf Mamas schlichtem Sarg lag ein protziger Strauß orangefarbener Lilien – die einzigen Blumen, die ihre Mutter immer gehasst, Claire hingegen geliebt hatte. Neben Whit und Claire war noch eine Handvoll weiterer Trauergäste erschienen: Mr Upton aus dem Lebensmittelgeschäft, Mr Hopper vom Imbiss und die Friends von der Eisenwarenhandlung. Die Stone-Brüder mit ihren Frauen. Die meisten von Jos Kunden. Pater Flynn entdeckte sie in der Tür.
»Jo«, rief er, und Erleichterung machte sich auf seinen Zügen breit. »Wir haben auf dich gewartet.« Claire und Whit drehten sich bei diesen Worten zu ihr um, ihre Hand lag in der seinen. Das war das erste Mal, dass Jo ihrer Schwester seit der Hochzeit begegnete, und es kam ihr so vor, als wäre Claire in den Monaten ihrer Ehe um Jahre gealtert. Sie hatte sich die dünnen Lippen in viel zu kräftigem Purpurrot angemalt, und an ihrem Hals entdeckte Jo die Kette mit der einzelnen Perle, die sie vor so vielen Jahren gestohlen und Ida dann zurückgegeben hatte.
Um Jo herum wurde die Luft plötzlich dünner, und sie konnte nur noch auf diese eine Perle starren. Wie falsch es doch war, dachte sie, dass Claire dort beim Leichnam ihrer Mutter thronte, während sie selbst wie ein ausgestoßener Geist hier im Türrahmen stand. Sie sah zu Unserer Lieben Frau hinüber, die so ohne Gesicht und mit den dünnen Stellen im Gewand selbst geisterhaft wirkte, eine Dame mit einem Herzen aus Stein.
»Kommst du nicht herein, mein Kind?«, fragte Pater Flynn geduldig wie immer. Ohne ein Wort und ohne den Blick von der Gottesmutter abzuwenden, marschierte Jo den engen Mittelgang entlang bis zum Bildnis der Jungfrau und legte ihr Salzsäckchen vorsichtig zu ihren Füßen ab. Dann ließ sie sich weit weg von Whit und Claire am anderen Ende einer Bank nieder und senkte den Blick. Während der ganzen kurzen Trauerfeier konnte Jo spüren, wie Whit sie anstarrte. Er war unruhig, klopfte nervös mit einem seiner teuren Slipper auf den Boden und strich sich immer wieder über die Seidenkrawatte. Und Jo wusste auch, warum.
Er wartete ab, bis alle Trauergäste fort waren, und kam dann zu ihr herüber, als sie sich gerade zum Gehen anschickte. »Wann wird das Testament verlesen?«, fragte er, ohne sich auch nur mit ein paar freundlichen Worten aufzuhalten. Jo sah zu Claire hinüber, die mit leuchtend roten Flecken auf den Wangen neben dem Altar wartete . Ich wusste gar nicht, dass er so gierig ist, dachte Jo . Mama ist noch nicht einmal unter der Erde, und er stellt hier schon ungerechtfertigte Ansprüche.
Jo fuhr sich mit der Zunge über die Lippe und labte sich an den Worten, die sie nun sagen würde. Sie zog den Bauch ein. »Freu dich nicht zu früh, Whit. Claire hat nämlich nichts geerbt.«
Auf der anderen Seite der Kirche stieß ihre Schwester ein leises Keuchen aus, und Whit packte Jo am Arm. »Was soll das heißen, nichts? Wie ist denn das möglich? Verdammt noch mal, die Salt Creek Farm gehört doch schließlich zur Hälfte ihr!«
Jo sah ihn kühl an. »Sie hat ihr früher mal zur Hälfte gehört. Aber Claire wollte ja unbedingt weg. Es war ihre Entscheidung. Wie auch immer, sie scheint ja jetzt gut versorgt zu sein.« Jo betrachtete Claires glänzende neue Schuhe und das Funkeln ihrer diamantbesetzten Ringe.
Whit wurde weiß wie eine Wand. »Ihr Gillys macht alles kaputt«, fauchte er.
Bevor er noch etwas sagen konnte, drehte Jo sich um und ergriff die Flucht. Sie stieß die Kirchentüren auf und hastete die Straße entlang. Ihre Haut fühlte sich noch immer starr und unangenehm an und machte ihr jede Bewegung schwer. Sie dachte an all die Dinge, vor denen sie davonlief – Claire, Whit, das anklagende Gesicht Unserer Lieben Frau und die dazugehörigen Sorgen. Wenn sie dem Salz je den Rücken kehrte, das war ihr klar, würde sie sich auflösen wie ein Löffel Backpulver in Lauge.
Ob es Jo nun passte oder nicht, ihre Zukunft war endgültig besiegelt. Man hatte sie der Marsch übergeben, eine von zweien, und nun war es längst zu spät, um zu gehen. Denn sie verdankte dem Salzgut weitaus mehr als nur ihren Lebensunterhalt. Sie verdankte ihm ihr Leben.
K APITEL 12
M it der Nachricht von Ethan Stones Rückkehr in die Gemeinde von
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