Das Geheimnis der Salzschwestern
St. Agnes änderte sich für Claire von einem Moment auf den anderen alles: das Wetter, die Art und Weise, wie Whit und sie über den Mittagstisch hinweg miteinander sprachen – oder noch häufiger eben nicht miteinander sprachen – und ihre Abneigung gegen das Salz.
Das Dezemberfeuer rückte immer näher, und der Wind fegte spröde und harsch über die Stadt. So ein Wetter ließ den Groll der Menschen auf die Dinge, die sie vermissten, größer werden, und bei Claire war das nicht anders. Die Kälte nistete sich in den unbenutzten Räumen des Turnerhauses ein, lauerte in den dunklen Fluren und zwickte sie in die Zehen, wenn sie die morgens unter der Bettdecke hervorstreckte. Whit war peinlich darauf bedacht, Heizkosten zu sparen, und mochte es nicht, wenn sie das Thermostat hochdrehte. Claire blieb morgens immer länger im Bett liegen, und sah zu, wie sich am Fenster Eisblumen bildeten, während sie das eisige Gerippe ihrer Vergangenheit erforschte und herauszufinden versuchte, wann es seinen Gefrierpunkt erreicht hatte. Dabei wusste sie ganz genau, dass es wohl der Tag nach dem Feuer gewesen sein musste, als Whit Turner sie weinend unter dem Birnbaum entdeckt und ihr sein Taschentuch angeboten hatte.
Damals war ihre Mutter bei Jo im Krankenhaus gewesen und hatte Claire sich selbst überlassen. Sie war völlig durcheinander und wusste so ganz allein nichts mit sich anzufangen. Auf der Suche nach Gesellschaft lief sie zur Stadt hinüber, nur um dann festzustellen, dass sie gar keine anderen Menschen um sich ertragen konnte, also landete sie schließlich unter dem Baum, wo sie um Ethan trauerte und ihr Unglück verfluchte.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Whit herankam. »Sieht so als, als könntest du das hier brauchen«, meinte er, zog ein sauberes Baumwolltaschentuch aus seinem Blazer und reichte es ihr. Sie wusste, dass er von dem Feuer erfahren haben musste, denn statt sie an den Haaren zu ziehen und sie ein albernes Gänschen zu nennen, half er ihr hoch, wischte ihr sorgfältig den Schmutz vom Rock und lud sie dann zu einer Tasse Kaffee ein.
Sie sprach das Thema zuerst an. »Du hast sicher schon mitbekommen, was ich getan habe«, schniefte sie, stellte dann aber fest, dass Whit kein Interesse an Klatsch und Tratsch hatte, vielleicht deshalb, weil der sich meistens um seine Mutter drehte.
»Hab ich gehört«, bestätigte er, und sein Tonfall verriet ihr, dass er nicht darüber reden wollte. Das war Claire ein Trost, denn sie wollte ebenfalls nicht darüber sprechen.
Es kam ihr komisch vor, hier im Imbiss am Tresen zu sitzen – wo sie doch hundertmal mit Ethan gewesen war – und an Whits Seite einen Kaffee zu schlürfen. Sie trank vorsichtig, gab acht, sich ja nicht die Bluse zu bekleckern, und fragte sich, ob reiche Leute ihre Tasse wohl irgendwie anders hielten. Sie warf einen Blick aus dem Augenwinkel auf Whit, doch der hielt seine Tasse genau wie sie ihre. Er lächelte, bewunderte ihre Haare und ließ den Blick dann über ihre Brust und Taille wandern. Claire errötete und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, er ließ deshalb aber nicht von ihr ab, sondern starrte sie weiterhin an. Dann beugte er sich vor und bedeutete ihr, es ihm gleichzutun. Als er sprach, kitzelte sie sein Atem am Ohr. »Eines Morgens wird dieser Ethan Stone aufwachen, und dann wird es ihm sehr leidtun, dass er dich verlassen hat«, flüsterte er.
Claire stellte ihre Tasse ab und schniefte. Schon bei der Erwähnung von Ethans Namen hätte sie am liebsten gleich wieder losgeheult. Wenn Whit nichts für das Gewäsch der Leute übrighatte, dann für Tränen sicher noch viel weniger, also richtete sie sich stattdessen kerzengerade auf und sah ihm in die Augen. »Woher willst du das wissen?«
Whit lächelte und legte seine Hand auf die ihre. »Weil ich dafür sorgen werde«, verkündete er.
Claire lief rot an, betrachtete ihre verschlungenen Finger auf dem Tresen und spürte Whits Blick. »Ich muss gehen«, wisperte sie. »Vielen Dank für den Kaffee.« Sie machte sich von ihm los und sagte sich, dass das sicher nur eine einmalige Sache war, weil sie ihm leidtat. In seinen Augen war sie doch bestimmt nur ein kleines sommersprossiges Mädchen mit X-Beinen und wackeligen Zähnen. Außerdem wusste sie ja, dass Whit einmal das Gleiche für Jo empfunden hatte wie sie für Ethan. Sie hatte ihrer Schwester gerade erst das Herz verbrannt. Jetzt wollte sie es ihr nicht auch noch brechen.
Dennoch sagte sie nicht nein, als Whit ihr eine
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