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Das Geheimnis Der Schönen Toten

Das Geheimnis Der Schönen Toten

Titel: Das Geheimnis Der Schönen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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nächste Tag war der heiligen Winifred gewidmet und in der Abtei von Saint Peter und Saint Paul ein wichtiger Festtag, obwohl der Tag ihrer Überführung und Einsetzung auf ihrem jetzigen Altar in der Kirche, der zweiundzwanzigste Juni, mit größerem Zeremoniell begangen wurde. Ein Feiertag im Sommer bietet für Prozessionen und Festlichkeiten besseres Wetter und längeres Tageslicht als der dritte November, wenn die Tage schon kürzer werden und der Winter näherrückt.
    Cadfael stand sehr früh am Morgen auf, lange vor dem ersten Stundengebet, nahm seine Sandalen und sein Skapulier und stahl sich im Licht der nächtlichen Gestirne aus dem dunklen Schlafsaal, in dem die kleine Lampe die ganze Nacht brannte, um stolpernde Füße, die nach dem Schlaf noch unsicher waren, ungefährdet zur Frühmesse und zu den Laudes zu geleiten. Der lange, mit niedrigen Trennwänden, die Zelle von Zelle abteilten, gesäumte Raum war voll leiser menschlicher Laute wie ein von sanften Geistern bewohntes Gewölbe; man hörte gedämpftes, seufzendes Atmen, ein unfreiwilliges Räuspern, das sich fast wie ein Schluchzen anhörte, die Folge eines wehmütigen Traums, die unbehaglichen Bewegungen von jemandem, der schon halb wach war, das dröhnende, zufriedene Schnarchen eines großen, kräftigen, traumlos schlafenden Körpers, und am Ende des langen Raums der tiefe, stille Schlaf Prior Roberts, verehrungswürdig zufrieden mit all seinen Taten und Worten, von Zweifeln ungetrübt, von Träumen unbehelligt. Der Prior schlief gewohnheitsmäßig so tief und fest, daß man leicht aufstehen und sich davonstehlen konnte, ohne furchten zu müssen, ihn zu stören. Früher hatte Cadfael es aus weniger billigenswerten Gründen getan als gerade an diesem Morgen. So dürfte es auch mehreren der unschuldigen Schläfer im Raum ergangen sein.
    Er ging leise die Treppe hinunter und betrat das Kircheninnere, das dunkel, leer und riesig dalag, erleuchtet nur durch die Glühwürmchenlampen auf den Altären, winzigen Sternen in einem nächtlichen Himmelsgewölbe. Wenn er so früh aufstand und reichlich Zeit hatte, war sein erstes Ziel stets der Altar der heiligen Winifred mit seinem silbernen Reliquiar, wo er innehielt, um mit seiner Landsmännin eine respektvolle und von Zuneigung geprägte kleine Unterhaltung zu führen. Er sprach immer Walisisch mit ihr, und die Mundarten seiner und ihrer Kindheit führten sie in einer willkommenen Intimität zusammen, die es ihm ermöglichte, sie alles zu fragen, ohne sich je abgewiesen zu fühlen. Er fühlte, daß sie Hugh sogar ohne seine Fürsprache mit ihrer Gunst und ihrem Schutz nach Cambridge begleiten würde, doch konnte es nicht schaden, die Notwendigkeit zu erwähnen. Es kam nicht darauf an, daß Winifreds schlanke walisische Gebeine immer noch in der Erde von Gwytherin ruhten, viele Meilen entfernt im Norden von Wales, wo sie ihr geistliches Amt versehen hatte. Heilige sind nicht körperlich, sondern Präsenzen. Sie können alles erreichen und berühren, was ihre Gnade und ihre Großmut wünschen.
    An diesem besonderen Morgen kam es Cadfael in den Sinn, auch für Generys ein Wort zu sprechen, die Fremde, die dunkle Frau, die ebenfalls Waliserin war und deren schöner, beunruhigender Schatten nicht nur die Phantasie des Ehemanns heimsuchte, der sie verlassen hatte, sondern auch die vieler anderer. Ob sie nun den Rest ihres Lebens irgendwo in weiter Ferne von ihrer Heimat verlebte, in Landen, die sie nie hatte besuchen wollen, unter Menschen, die sie nie hatte kennenlernen wollen, oder ob sie jetzt in jener stillen Ecke des Friedhofs lag, auf Land der Abtei exhumiert, um in Land der Abtei gelegt zu werden, der Gedanke an sie rührte ihn an und mußte gewiß auch die Wärme und Zärtlichkeit der Heiligen erregen, die einem ähnlichen Exil entronnen war. Cadfael brachte ihren Fall mit Zuversicht vor. Er kniete auf der niedrigsten Stufe von Winifreds Altar nieder, wo Bruder Rhun seine überflüssig gewordenen Krücken hingelegt hatte, als sie ihn bei der Hand genommen und seine Lahmheit geheilt hatte.
    Als Cadfael sich erhob, war die erste Aufhellung der Dunkelheit vor Anbruch der Morgendämmerung zu einer bleichen, perlmuttfarbenen Andeutung von Licht geworden, die sich in den hohen Umrissen der Fenster des Hauptschiffs deutlich abzeichnete und Säulen, Gewölbe und Altäre aus der Düsternis hervortreten ließ. Cadfael ging das Hauptschiff zum Westportal hinunter, das außer in Zeiten von Krieg oder Gefahr nie

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