Das Geheimnis Der Schönen Toten
unter ihnen war zur Ruhe gekommen. Cadfael drehte sich um und begab sich durch das große Westportal wieder in die Kirche.
Darin befand sich noch eine Gestalt, die sich behutsam um den Gemeindealtar herum bewegte, ein stummer Schatten in der Dämmerung, die noch immer nur von den ständig brennenden Lampen erhellt wurde. Cadfael folgte ihm in den Chorraum und erkannte an einem glühenden rötlichen Lichtschein, wie der andere einen Fidibus aus Stroh entfachte und die für das erste Stundengebet bereitstehenden Kerzen anzündete. Diese Aufgabe wechselte turnusmäßig, und Cadfael wußte in diesem Augenblick nicht, wer an diesem Tag an der Reihe war, bis er den Mann, der still und mit erhobenem Haupt dastand und den Altar ansah, erreicht hatte und fast berühren konnte. Eine aufrechte Gestalt, hager, aber sehnig und stark, mit großen, an der Taille gefalteten wohlgestalteten Händen und tiefliegenden, weit offenen Augen, die wie in einem verzückten Traum starrten. Bruder Ruald hörte die näherkommenden stetigen Schritte, spürte aber nicht das Bedürfnis, den Kopf umzudrehen oder die Gegenwart eines weiteren Menschen sonst irgendwie zur Kenntnis zu nehmen. Manchmal schien er sich kaum bewußt zu sein, daß es noch andere gab, die dieses auserwählte Leben und diese Zuflucht mit ihm teilten. Erst als Cadfael Ärmel an Ärmel neben ihm stand und die Bewegung die Kerzen kurz aufflackern ließ, drehte sich Ruald mit einem hörbaren Seufzen um, da er aus seinem Traum gerissen worden war.
»Du bist früh auf den Beinen, Bruder«, sagte er mild.
»Konntest du nicht schlafen?«
»Ich bin aufgestanden, um den Sheriff und seinen Trupp aufbrechen zu sehen«, erwiderte Cadfael.
»Sie sind schon weg?« Ruald holte verwundert Luft und bedachte ein Leben und eine Disziplin, die so völlig anders waren als seine frühere oder jetzige Berufung. Die Hälfte des Lebens, das er erwarten konnte, hatte er als bescheidener Handwerker verbracht, in einem Beruf, der aus irgendeinem verborgenen Grund unter Handwerkern als der geringste geachtet wurde, doch weshalb ehrlichen Töpfern ein so niedriger Status zuerkannt wurde, war für Cadfael ein Rätsel. Jetzt würde Ruald das gesamte Leben, das ihm noch verblieb, hier mit dem hingebungsvollen Dienst an Gott verbringen. Er hatte nicht mal zum Spaß auf Zielscheiben geschossen, wie die jungen Burschen aus Shrewsburys Händlerfamilien es taten, hatte nicht einmal auf dem Exerzierplatz der Gemeinde mit Fechtstöcken oder stumpfen Schwertern gekämpft. »Vater Abt wird für ihre sichere Rückkehr täglich Gebete sprechen lassen«, sagte er. »Und Vater Boniface wird beim Gottesdienst das gleiche tun.«
Was für ein beengtes Leben er geführt hat, überlegte Cadfael und blickte mit Dankbarkeit auf die Weite und Tiefe seines eigenen zurück. Und plötzlich begann ihm zu dämmern, daß alle Leidenschaft, die es je in der Ehe dieses Mannes gegeben hatte, alles Blut, das ihre Flamme am Leben gehalten hatte, von der Frau hatte kommen müssen.
»Wir wollen hoffen«, erwiderte er kurz, »daß ebenso viele wiederkommen, wie heute losgeritten sind.«
»Das wollen wir«, stimmte Ruald demütig zu, »doch wer zum Schwert greift, so steht es geschrieben, wird durch das Schwert umkommen.«
»Du wirst keinen guten, ehrlichen Schwertkämpfer finden, der diesem Satz widerspräche«, sagte Cadfael. »Es gibt weit schlimmere Methoden.«
»Das mag wahr sein«, erwiderte Ruald sehr ernst. »Ich weiß sehr wohl, daß ich Dinge zu bereuen habe, Dinge, für die ich Buße tun muß, und diese Buße wird so schrecklich sein, als würde Blut vergossen. Habe ich bei der Suche nach dem, was Gott von mir verlangte, nicht auch getötet?
Selbst wenn sie dort im Osten noch leben sollte, habe ich ihr sozusagen den Lebensatem geraubt. Ich habe es damals nur nicht gewußt. Ich konnte nicht einmal klar in ihrem Gesicht lesen, verstand nicht, was ich ihr antat. Und jetzt bin ich unsicher, ob es wohlgetan war, dem zu folgen, was ich für einen heiligen Ruf hielt, oder ob ich um ihretwillen nicht selbst hierauf hätte verzichten müssen. Es mag sein, daß Gott mich auf die Probe stellen wollte. Sag mir, Cadfael, du hast in der Welt gelebt, die Welt bereist, weißt, wie sehr der Mensch zum Äußersten getrieben werden kann, ob zum Guten oder Bösen. Glaubst du, es hat je einen Menschen gegeben, der bereit war, selbst auf den Himmel zu verzichten, um mit einer anderen Seele, die ihn liebte, im Fegefeuer zu bleiben?«
Für
Weitere Kostenlose Bücher