Das Geheimnis Der Schönen Toten
Cadfael, der dicht neben ihm stand, schien dieser hagere und beschränkte Mann größer und charaktervoller geworden zu sein; vielleicht lag es auch einfach an der zunehmenden Stärke und Klarheit des Lichts, das jetzt durch jedes Fenster hereinleuchtete und die Kerzen auf dem Altar verblassen ließ. Gewiß war die milde und bescheidene Stimme nie so beredsam gewesen.
»Die Vielfalt auf Erden ist gewiß so groß«, sagte er langsam und mit Bedacht, »daß selbst das möglich ist. Ich bezweifle aber, daß ein solches Wunder je von dir verlangt wurde.«
»In drei Tagen«, sagte Ruald sanfter und sah, wie die Flammen, die er entzündet hatte, emporloderten und stetig und golden brannten, »haben wir den Tag des heiligen Illtud. Du bist Waliser und wirst wissen, was über ihn gesagt wird. Er hatte eine Frau, eine edle Dame, die bereit war, mit ihm am Fluß Nadafan in einer Strohhütte ein einfaches Leben zu führen. Ein Engel wies ihn an, seine Frau zu verlassen, und so stand er eines Tages am frühen Morgen auf, jagte sie allein in die Welt hinaus und verstieß sie auf höchst grobe Weise, wie wir lesen, um die Tonsur eines Mönchs des heiligen Dyfrig zu empfangen. Ich bin nicht grob mit Generys umgegangen, aber trotzdem ist es bei mir genauso gewesen, denn so habe ich mich von ihr getrennt. Cadfael, was ich fragen möchte, ist folgendes: War es ein Engel oder ein Teufel, der es von mir verlangte?«
»Du stellst mir eine Frage«, entgegnete Cadfael, »auf die nur Gott allein die Antwort weiß, und damit müssen wir uns zufriedengeben. Gewiß haben schon andere vor dir den gleichen Ruf erhalten wie du und sind ihm gefolgt. Der große Earl, der dieses Haus gegründet hat und dort zwischen den Altären ruht, hat ebenfalls seine Frau verlassen und den Habit angelegt, bevor er starb.« In Wahrheit sogar nur drei Tage vor seinem Tod und mit Zustimmung seiner Frau, doch in diesem Moment war es nicht nötig, das zu erwähnen.
Noch nie zuvor hatte Ruald die versiegelten Räume in sich geöffnet, in denen seine Frau versteckt gewesen war, sogar vor seinem eigenen Anblick, zunächst durch die Intensität seiner Sehnsucht nach Frömmigkeit, dann durch die menschliche Fehlbarkeit von Erinnerung und Gefühl, die es ihm schwergemacht hatte, sich auch nur ihre Gesichtszüge wieder vor Augen zu führen. Die Bekehrung hatte ihn getroffen wie ein vernichtender Schlag, der jede Empfindung ausgelöscht hatte, und jetzt, nach so langer Zeit, kehrte er wieder zum Leben zurück, jetzt erst erfüllte die Erinnerung sein ganzes Wesen mit scharfern und stechendem Schmerz. Vielleicht wäre es ihm außer in dieser zeitlosen und unpersönlichen Einsamkeit mit nur einem einzigen Zeugen nie möglich gewesen, sein Herz so rückhaltlos zu entblößen und über sie zu sprechen.
Denn er sprach wie zu sich selbst mit klaren und einfachen Worten, erinnerte sich eher, als daß er erzählte. »Ich hatte nicht die Absicht, ihr weh zu tun - Generys... Mir blieb nur eine Wahl, ich konnte nur gehen. Man kann sich jedoch auf mehr als nur eine Weise verabschieden. Ich habe nicht klug gehandelt. Ich war ungeschickt und habe es nicht gut gemacht. Ich hatte sie ihrer Familie entrissen, und sie war in all diesen Jahren mit wenigem zufrieden, begnügte sich mit dem Mann, der ich bin, und wünschte sich nichts darüber hinaus. Ich kann ihr nicht einmal einen zehnten Teil von dem gegeben haben, was sie mir gab, nicht einmal einen Bruchteil davon.«
Cadfael lauschte reglos, als die leise Stimme mit ihrem Klagelied fortfuhr. »Dunkel war sie, sehr dunkel, sehr schön. Jeder nannte sie so, doch jetzt sehe ich, daß niemand je gewußt hat, wie schön sie wirklich war, denn für die Außenwelt war es, als wäre sie verschleiert gewesen, als hätte nur ich je gesehen, wie sie ihr Gesicht aufdeckte. Oder vielleicht auch Kinder — denen hat sie sich vielleicht auch unverhüllt gezeigt. Wir selbst hatten keine Kinder, wir waren nicht damit gesegnet. Das ließ sie den Kindern, die ihre Nachbarn gebaren, zärtlich und liebevoll begegnen.
Und sie ist noch nicht jenseits aller Hoffnung, eigene Kinder zu gebären. Wer weiß? Vielleicht könnte sie mit einem anderen Mann noch welche empfangen.«
»Und würdest du dich für sie freuen?« fragte Cadfael sanft, um den Gesprächsfluß des anderen nicht zu unterbrechen.
»Ich würde mich freuen. Ich würde mich von ganzem Herzen freuen. Warum sollte sie unfruchtbar weiterleben, nur weil ich erfüllt bin? Oder gebunden sein, wo ich
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