Das Geheimnis der Schwestern
hättest Luke heiraten sollen.«
»Nicht«, flüsterte sie.
Der Wachmann schloss die Tür auf und führte Dallas hinaus.
Als sie den Blick senkte, sah sie das Foto von Noah immer noch auf dem Tisch liegen, und da wusste sie, dass er aufgegeben hatte.
Der September ging in den Oktober und dann in den November über, und Vivi Ann fuhr Samstag für Samstag zum Gefängnis und meldete ihren Besuch an. Dann saß sie allein in ihrer Kabine und sah zu, wie Minute für Minute ihr Leben verstrich.
Dallas kam nie mehr zu ihr heraus. Ihre wöchentlichen Briefe wurden ungeöffnet zurückgeschickt. Im Dezember, auf den Tag genau sechs Jahre nach seiner Verhaftung, schickte er eine Karte, auf der stand: Schenk Noah meinen Wagen und sag ihm die Wahrheit.
Die Wahrheit.
Sie wusste nicht mal, was er damit meinte. Welche Wahrheit? Dass seine Eltern sich geliebt hatten oder dass ihre Liebe sie zerstört hatte? Oder wollte er, wie Roy, damit andeuten, dass er den Mord an Cat gestanden hatte? (Niemals würde sie ihrem Sohn das sagen, und sie würde es auch nicht glauben.) Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie jenseits von Gut und Böse war.
Es war schon schlimm gewesen, ihn all die Jahre im Gefängnis zu besuchen. Aber ihn nicht zu besuchen war noch schlimmer. Sie hatte gedacht, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Bis zum heutigen Tag.
Dann war die Post gekommen. Als sie den großen, braunen Umschlag vom Gefängnis sah, hatte sie ihn aufgerissen und gedacht: Gott sei Dank.
Antrag auf Auflösung der Ehe .
Noch nie hatte etwas so weh getan. Nicht mal Moms oder Clems Tod. Nichts.
Sie ging schnurstracks zum Arzneischränkchen, warf wahllos Pillen ein und spülte sie mit Tequila hinunter. Dann kroch sie ins Bett, schloss die Augen und betete zu Gott, dass sie nicht träumen würde.
»Mommy. Ist es noch nicht Zeit?«
»Mommy?«
Sie hob mühsam den Kopf vom Kissen.
Noah stand an ihrem Bett. »Wir müssen zu Sam fahren, hast du das vergessen?«
»Was?«
Seine Miene verdüsterte sich, wie so oft in letzter Zeit. »Die Party fängt um drei Uhr an. Die anderen Mommys wissen das.«
»Oh!« Sie schob die Decke beiseite und taumelte aus dem Bett. Ganz langsam, denn ihr Kopf dröhnte und sie ging wie auf Watte, bewegte sie sich zur Dusche, aber ihre Hände waren so gefühllos, dass sie nicht mal den Wasserhahn drehen konnte. Also fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr ungewaschenes, strähniges Haar und band sich einen losen Pferdeschwanz. Es dauerte eine Ewigkeit, sich anzuziehen; sie konnte sich kaum konzentrieren, ihre Finger zitterten, und sie musste ständig um ihr Gleichgewicht kämpfen. Aber endlich hatte sie sich eine alte Jogginghose, ein Flanellhemd und ihre Cowboystiefel angezogen. »Gehen wir, kleiner Mann«, sagte sie und versuchte zu lächeln. Dabei fiel ihr auf, wie undeutlich sie sprach.
»Wo ist das Geschenk?«
»Wie?«
»Es ist sein Geburtstag , Mom.«
»Ach ja.« Sie ging unsicher durchs Haus und wünschte nur, der Nebel in ihrem Kopf würde weichen. Auf der Küchentheke fand sie ein fast neues Halfter (was zum Teufel machte das hier?) und wickelte es in die Comicseite einer alten Zeitung. »Hier. Er hat doch ein neues Pferd bekommen, nicht wahr?«
»Das ist ein blödes Geschenk.«
»Entweder das oder gar keins.«
Er seufzte. »Na schön.«
Im prasselnden Regen gingen sie zum Wagen.
Sie brauchte ziemlich lange, um ihn im Kindersitz anzuschnallen, und danach war sie schweißgebadet. Ihre Hände zitterten und waren so glitschig, dass sie kaum das Lenkrad festhalten konnte.
Der Regen trommelte gegen die Windschutzscheibe und lief in breiten Rinnsalen herunter, so dass die Scheibenwischer kaum mithalten konnten.
Vivi Ann gab Gas. In der Stadt versuchte sie sich nur auf die Straße zu konzentrieren. Sie sah so gut wie nichts. Alles um sie herum war wässrig und verschwommen, so substanzlos wie das letzte Mal, als sie Dallas im Gefängnis besucht hatte … als sie ihn geküsst und angefleht hatte, sie und ihre Liebe nicht aufzugeben … an diesem Tag war sie auch in den Regen gegangen und –
»Mommy!«
Sie blinzelte und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie war auf der Gegenfahrbahn; ein Wagen kam laut hupend auf sie zugerast.
Sie riss das Steuer herum und spürte, wie der Wagen zur Seite ausbrach und über den Fußgängerweg bretterte. Sie trat auf die Bremse, aber es war zu spät, oder sie bremste zu heftig. Der Wagen schlitterte über eine nasse Rasenfläche und krachte gegen einen Baum.
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