Das Geheimnis der Schwestern
kein leises Wiehern zur Begrüßung, kein Rascheln des Schweifs.
Als sie auf die frischen Sägespäne trat, wusste sie sofort Bescheid.
Clementine lag an der Holzwand ihrer Box. Ihr großer ergrauter Kopf hing schlaff herab.
Wie gelähmt stand Vivi Ann da, denn wenn sie versucht hätte, sich zu rühren, wäre sie in die Knie gegangen. Selbst das Atmen kostete sie Mühe. In diesem Augenblick, als sie in der kühlen, dämmrigen Box stand, die ihr so vertraut war, die seit jeher ihr Lieblingsort gewesen war, fielen ihr alle Begebenheiten ein, die sie mit ihrem großartigen Pferd erlebt hatte. Ihrer beider Leben waren miteinander verflochten.
Weißt du noch, als du in dieses Hornissennest getreten bist … als du in den Graben gesprungen bist und ich in den Heidelbeeren landete … als wir zum ersten Mal das Rodeo gewannen?
Sie schluckte hart, ging ein paar Schritte und ließ sich vor dem Pferd in die Sägespäne sinken. Als sie die Hand ausstreckte und Clems Hals berührte, spürte sie, wie unnatürlich kalt er war. Es gab so viel über dieses großartige Pferd zu sagen – es war das letzte reale Bindeglied zu ihrer Mutter –, aber Vivi Ann brachte kein Wort hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt; ihre Augen brannten. Wie sollte sie ohne Clem weitermachen? Vor allem jetzt, da sie so viel verloren hatte?
Sie kratzte Clem die Ohren. »Du hättest draußen in der Sonne sein sollen, mein Mädchen. Ich weiß doch, wie sehr du diesen dunklen Stall hasst.«
Das ließ sie an Dallas und seine Zelle denken, und auf einmal wurde sie von Trauer und Einsamkeit überwältigt. Sie legte sich neben die Stute, schmiegte sich in Embryonalstellung an ihre tröstende Flanke und schloss die Augen.
Leb wohl, Clem. Grüß Mom von mir.
Die Zeit verstrich; langsam, stockend zwar, aber unablässig. Das Jahr 2000 verblasste in einem grauen Vakuum aus leeren Tagen und endlosen Nächten. Noah hatte mit der Schule angefangen (zu früh, wie Vivi Ann fand, sie hätte warten sollen, bis er sechs war, hätte es auch getan, wenn Dallas da gewesen wäre, aber er war nicht da). Mit sechs fing er dann mit T-Ball und mit sieben mit Fußball an. Sie verpasste all seine Turniere an den Samstagen; ein weiterer Grund für Schuldgefühle. Aurora bot ihr ständig an, sie zum Gefängnis zu begleiten, aber Vivi Ann lehnte das ab. Sie konnte das nur allein schaffen.
In der ersten Septemberwoche des Jahres 2001 kam dann der Anruf, auf den sie gewartet hatte.
»Mr Lovejoy würde sich heute gerne mit Ihnen treffen.«
Vivi Ann wusste, das waren gute Nachrichten. In all den Jahren seit Dallas’ Verhaftung hatte Roy sie noch nie zu sich in die Kanzlei gebeten.
Gott, ich danke dir , dachte Vivi Ann, als sie sich fertigmachte. Dieser Satz ging ihr immer wieder durch den Sinn, schneller und schneller, bis sie kaum noch etwas anderes denken konnte.
Auf dem Weg zum Anwalt fuhr sie an der Schule vorbei und holte Noah ab. Nach all dem, was sie durchgestanden hatten, verdiente er es, dabei zu sein, wenn die gute Neuigkeit verkündet wurde.
»Aber ich verpass die Pause«, sagte Noah. Er saß auf dem Beifahrersitz und ließ zwei Plastikdinos miteinander kämpfen.
»Ich weiß, aber wir werden Neuigkeiten über deinen Daddy hören. Darauf haben wir doch so lange gewartet. Ich möchte, dass du dich an diesen Tag erinnerst, dass du persönlich dabei warst.«
»Ach so.«
»Weil ich niemals aufgegeben habe, Noah. Auch das ist wichtig, selbst wenn es sehr, sehr schwer war.«
Er gab nur Geräusche von sich, die den endlosen Kampf seiner Dinosaurier untermalten.
Vivi Ann schaltete das Radio ein und fuhr weiter. In Belfair, der Stadt am Anfang des Hood Canals, fuhr sie zu Roys Kanzlei, die sich in einem älteren Haus am Ufer befand.
»Da sind wir«, sagte sie und parkte. Ihr Herz raste so, dass ihr leicht schwindelig war, aber sie hatte keine Tabletten genommen, nicht mal eine zur Beruhigung. Ab heute würde sie nie mehr welche nehmen. Es würde nicht mehr notwendig sein, wenn ihre Familie wieder intakt war. Sie half Noah aus dem Kindersitz, ergriff seine Hand und ging über den grasüberwucherten Plattenweg zum Eingang.
Drinnen sagte sie lächelnd zur Empfangssekretärin: »Ich bin Vivi Ann Raintree und habe einen Termin bei Roy.«
»Ja, stimmt«, antwortete die Sekretärin. »Durch diese Tür, bitte. Er erwartet Sie schon.«
Roy saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Als sie eintrat, lächelte er, bedeutete ihr, Platz zu nehmen, sagte noch etwas zu
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