Das Geheimnis der Schwestern
Hauptsache, es half – und spülte sie mit Tequila hinunter.
Dann kroch sie ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, weder an Dallas noch an Noah noch an die Zukunft zu denken. Denn sonst würde sie sich im Nichts auflösen. So lag sie da, benommen, benebelt, und starrte aus dem Fenster auf die Ranch, bis es dunkel wurde; danach starrte sie ins Nichts, bis sie ein Teil davon war und gar nichts mehr wahrnahm.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie ein altes, vertrocknetes Stück Leder. Trotzdem kletterte sie aus dem Bett, ging unter die heiße Dusche und fuhr dann zum Gefängnis.
»Vivi Ann Raintree möchte Dallas Raintree besuchen«, sagte sie förmlich, obwohl sie mittlerweile hier schon bekannt war.
Die Frau am Empfang – heute war es Stephanie – lächelte. »Ihr Anwalt hat heute einen richtigen Besuch arrangiert.«
»Wirklich? Das hat er mir gar nicht gesagt.«
Normalerweise wäre sie außer sich vor Freude gewesen. In all den Jahren hatte sie Dallas nur selten ohne die trennende Plexiglasscheibe besuchen dürfen. Aber jetzt wusste sie, warum ihr dieser Besuch gestattet worden war. Es war Roys Abschiedsgeschenk an sie, ein Zeichen dafür, dass sie am Ende angelangt waren.
Sie ging zum Metalldetektor. Kaum war sie hindurch, sagte ein großer Wachmann in Uniform schroff: »Hier entlang.« Er stempelte ihre Hand und gab ihr ein Namensschild, das sie sich um den Hals hängen musste.
Sie folgte ihm durch einen breiten grauen Gang. Die Türen öffneten und schlossen sich automatisch, schwangen langsam auf und gingen mit einem lauten Klacken hinter ihnen zu. Mit jeder neuen Tür, die geöffnet wurde, schien der Lärm lauter zu werden, bis Vivi Ann wirklich im Gefängnis war, dort, wo die Häftlinge untergebracht waren.
Endlich führte der Wächter sie in einen Raum am Ende des letzten Ganges.
Er war klein und hatte weder Fenster noch Kabinen. Gegenüber der Tür stand ein weiterer Wächter. Ohne sich zu bewegen oder ihr auch nur zuzunicken, nahm er ihre Ankunft zur Kenntnis.
In der Mitte des Raums stand ein großer, durch jahrelangen Gebrauch mitgenommener Holztisch. Ein paar Plastikstühle waren darangeschoben. Sie ging zum Tisch, setzte sich, rückte nah an den Tisch und wartete. Die Wanduhr zeigte an, wie die Minuten verstrichen.
Endlich summte eine Tür im hinteren Teil des Raums und schwang auf. Der Wachmann drehte sich leicht, um sie im Blick zu behalten.
Dallas kam hereingehumpelt; er trug Ketten an Hand- und Fußgelenken, die an seiner Taille verbunden waren.
Vivi Ann stand auf und wartete. Sie konnte es kaum fassen, dass sie sich nach all den Jahren wieder so nahe waren.
Er schlurfte zu ihr. Sie nahm ihn in die Arme, drückte ihn fest an sich und spürte, wie dünn und knochig sie beide geworden waren.
»Das reicht«, sagte der Wächter. »Setzen Sie sich.«
Widerstrebend ließ Vivi Ann ihn los. Dallas ging unbeholfen zur gegenüberliegenden Seite des Tischs und setzte sich.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus. Seine Haare waren mittlerweile so lang, dass sie ihm fast bis über die Schulter reichten.
Sie holte das neueste Foto von Noah aus ihrer Tasche und gab es ihm. Es zeigte ihren Sohn, der mit einem großen Westernsattel auf Renegade saß und in die Kamera winkte. »Du solltest ihn reiten sehen. Eines Tages wird er so gut mit Pferden umgehen können wie du.«
Als Dallas das Foto nahm, zitterte seine Hand. »Wir tun uns nicht gut, Vivi.«
»Sag das nicht. Bitte.«
»Ich habe versucht, gut genug für dich zu sein.«
Sie schluckte hart. »Was hast du Roy erzählt?«
»Das ist nicht mehr wichtig.« Er war so reglos, als atmete er nicht mehr, was aberwitzig war, weil sie keuchte wie ein Läufer nach einem Sprint und kaum Luft bekam.
»Weißt du, was ich am meisten an dir geliebt habe, Vivi? Dass du nie gefragt hast, ob ich sie umgebracht habe. Nie.«
Sie ging zu ihm, zog ihn in die Arme und küsste ihn, weil sie ihn spüren wollte, aber sie schmeckte nur ihre eigenen Tränen. »Versuch nicht, mir zu sagen, dass du es getan hast, Dallas. Ich würde dir nicht glauben. Und wag es ja nicht, aufzugeben. Wir stehen das gemeinsam durch. Wir müssen weiterkämpfen.«
»Zurücktreten«, forderte der Wächter und kam auf sie zu.
Durch ihre Tränen hindurch sah Vivi Ann, dass Dallas lächelte. Es war dasselbe leichtsinnige, herausfordernde, sexy Lächeln, das er ihr vor vielen Jahren, an ihrem ersten Abend im Outlaw, zugeworfen hatte. »Du
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