Das Geheimnis der Schwestern
Ihr Kopf schlug so hart gegen das Lenkrad, dass sie kurzzeitig die Orientierung verlor. Sie nahm den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund wahr.
Dann hörte sie Noah schreien.
Das schrille, hysterische Kreischen schien von weit weg zu kommen. Etwas ganz tief in ihrem Inneren reagierte darauf mit Schmerz, aber ihr Kopf konnte damit nichts anfangen.
»Mommy!«
Mit zitternden Händen löste sie ihren Gurt und schnallte Noah ab. Er stürzte sich in ihre Arme und schmiegte schluchzend seinen Kopf in ihre Halsbeuge.
Langsam, ganz langsam nahm sie ihn in ihren Armen wahr und begriff, was gerade passiert war. Sie presste ihn an sich und sog seinen kindlichen Geruch ein. So lange hatte sie sich vor ihrem Sohn verschlossen, war vor ihm zurückgeschreckt, aber jetzt strömte ihre Liebe zu ihm zurück wie eine Sturzflut, in der sie zu ertrinken meinte. »O mein Gott«, schluchzte sie. »Es tut mir so leid …«
Unter Tränen sah er zu ihr auf und schniefte. »Alles in Ordnung, Mommy?«
»Es wird alles in Ordnung kommen, Noah. Das verspreche ich.«
Vivi Ann legte den Rückwärtsgang ein, um den Wagen von dem sehr in Mitleidenschaft gezogenen Baumstamm zu lösen. Der Motor heulte auf, aber der Truck bewegte sich rückwärts und rollte vom Bürgersteig herunter.
Als Vivi Ann weiterfuhr, zitterte sie am ganzen Körper, aber sie versuchte es vor ihrem Sohn zu verbergen, der schon wieder mit seinen Dinos spielte, als wäre nichts geschehen. Doch er würde sich daran erinnern, das war gewiss.
Sie fuhr zur Geburtstagsparty und drückte ihn zum Abschied so fest an sich, dass er sich fast gewaltsam von ihr befreite.
»Ich hab dich lieb, Noah«, sagte sie und fragte sich, wann sie sich das letzte Mal getraut hatte, dies zu sagen.
»Ich dich auch, Mommy.«
Langsam richtete sie sich auf und sah ihm nach, als er zur Haustür ging. In einem anderen Leben – einem, das sie sich früher erträumt hatte – wäre sie Hand in Hand mit ihm gegangen und hätte sich zu den anderen Müttern gesellt, um Spiele zu organisieren und Kuchen auszuteilen.
Aber jetzt stand sie hier, allein und abgeschnitten von ihrem eigenen Leben.
Das musste aufhören.
Sie ging zurück zu dem rauchenden, verbeulten Truck und stieg auf den Fahrersitz.
Ironie des Schicksals: sie auf dem Fahrersitz. Jahrelang war sie nur Beifahrer gewesen, aber was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Die Antwort schien ihr zu fern und ungeheuer, um sie zu erfassen.
Nur eins wusste sie genau: Sie brauchte Hilfe. Sie schaffte es nicht mehr allein.
Und Winonas Haus war direkt gegenüber.
Sie stieg aus dem Wagen, ging zum Grundstück ihrer Schwester und blieb an dem weißen Zaun stehen. Der Regen prasselte auf sie nieder und trübte ihre Sicht, aber was sie jetzt tun musste, war glasklar. Noah verdiente eine bessere Mutter.
Schließlich seufzte sie tief auf und ging zu Winonas Haustür.
»Winona? Ihre Schwester Vivi Ann möchte Sie sehen.«
Auf diesen Satz hatte Winona so lange gewartet, dass sie sofort von ihrem Stuhl hochschoss und fast vergaß, Lisa zu sagen, sie solle sie hereinbitten.
Unsicher und ängstlich, aber voller Hoffnung überlegte sie, was sie sagen sollte. Als Vivi Ann jedoch die Tür öffnete und eintrat, war Winona so verblüfft, dass ihr die Worte fehlten.
Vivi Ann weinte nicht, sie schluchzte. Tränen liefen ihr über das bleiche, schmerzverzerrte Gesicht, und ihre Schultern zuckten.
Ohne lange zu überlegen, ging Winona zu ihr und breitete die Arme aus.
Vivi Ann wich zurück, taumelte zur Couch und ließ sich darauf sinken.
Winona nahm auf dem Sessel gegenüber Platz. Steif und aufrecht saß sie da und wagte kaum zu atmen. Dieses eine Mal musste sie den Mund halten und nicht als Erste sprechen. Es war eine Qual. Sie hatte ihrer Schwester so viel zu sagen, jahrelang hatte sie ihre Worte wie Schätze gehütet und poliert, bis sie glänzten wie die Scherben am Strand, die ihre Mutter so geliebt hatte.
Das Schweigen schien sich endlos auszudehnen. Dann sagte Vivi Ann leise: »Heute habe ich Noah und mich fast umgebracht.«
»Was ist passiert?«
»Das ist unwichtig.« Sie wandte den Blick ab. Ihr stumpfes, strähniges Haar hing ihr im Gesicht; aus ihren blutunterlaufenen Augen quollen Tränen. »Ich würde alles geben, um von hier zu verschwinden, aber ich weiß nicht, wohin.«
»Renn doch nicht weg«, bat Winona. »Wir sind deine Familie. Noahs Familie. Wir können das zusammen durchstehen.«
»Dallas wird nicht mehr aus dem Gefängnis
Weitere Kostenlose Bücher