Das Geheimnis der Schwestern
seinem Gesprächspartner und legte dann auf.
Vivi Ann platzierte Noah auf dem Sofa hinter sich und befahl ihm, leise zu spielen; dann nahm sie auf dem Stuhl vor Roys Schreibtisch Platz.
»Sie haben es aber in Rekordzeit hierhergeschafft«, sagte er.
»Ich habe schließlich auch Jahre auf diesen Anruf gewartet. Oder nicht?«
»Ach«, erwiderte Roy und runzelte die Stirn. »Das hätte ich bedenken sollen.«
»Was denn?«
»Was Sie denken würden.«
Vivi Ann spürte, wie sich alles in ihr anspannte. »Sie wollten mir doch sagen, dass seine Berufung gewährt wurde, oder nicht?«
»Eigentlich war es eine Habeas-Corpus-Verfügung, aber es ist anders, als Sie denken.«
Hinter ihr ließ Noah seine Dinos immer lauter gegeneinanderkrachen, aber Vivi Ann hörte kaum etwas außer dem durchdringenden Dröhnen, das plötzlich in ihrem Kopf ertönte. »Wie ist es denn?«
»Tut mir leid, Vivi Ann. Unser Antrag wurde erneut zurückgewiesen.«
Langsam schloss sie die Augen. Wie hatte sie so naiv sein können? Was war bloß los mit ihr? Sie hätte doch wissen müssen, dass es dumm war, auf Hoffnung zu bauen. Sie holte tief Luft, atmete wieder aus und sah ihn an.
Sie wusste, dass sie so ruhig und gefasst wirkte, als wäre dieser erneute Rückschlag nur ein weiteres Hindernis auf ihrem schwierigen Weg. Erst am Abend würde sie zusammenbrechen. Sie hatte jahrelange Übung darin, zu warten, sich zu verstellen, Gefühle zu verbergen. »Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?«
»Natürlich. Da drüben.«
Sie stand auf und ging langsam zu der Anrichte, auf der ein Krug Wasser stand. Sie schenkte sich ein Glas ein, dann griff sie in ihre Tasche, holte ein paar Tabletten heraus und schluckte sie, bevor sie sich wieder umdrehte. »Weiß Dallas schon Bescheid?«
»Seit gestern«, antwortete Roy.
Vivi Ann setzte sich wieder und hoffte, dass die Tabletten schnell wirken würden. Sie konnte ihre Gefühle nicht mehr lange ertragen. »Und was jetzt? Wo legen wir Berufung ein?«
»Ich habe alles getan, was in diesem Fall möglich ist. Ich habe jedes Argument angeführt, jeden Antrag gestellt und jedes Gericht angerufen. Sie wissen, dass ich kein Strafverteidiger mehr bin. Ich habe all dies pro bono getan, aber jetzt kann ich nichts mehr tun. Sie könnten sich einen anderen Anwalt suchen und behaupten, ich wäre inkompetent, was ich vielleicht auch bin – was weiß ich! Wenn Sie das möchten, helfe ich Ihnen dabei.« Er seufzte. »Ich weiß es nicht, Vivi. Ich weiß nur, dass wir jetzt am Ende sind. Es tut mir leid.«
»Sagen Sie das nicht!« Sie hörte, wie ihre Stimme schrill vor Verzweiflung, scharf vor Zorn wurde, und bemühte sich lächelnd, ihren Tonfall abzumildern. »Seit Jahren höre ich das von allen Seiten. Ich will es nicht mehr hören. Wir brauchen Sie, Roy, um seine Unschuld zu beweisen.«
Roy senkte den Blick.
Doch Vivi Ann hatte etwas darin gesehen, was sie beunruhigte. »Roy? Was ist denn?«
»Nichts. Ich hatte nur … ein vertrauliches Gespräch mit Dallas. Diese Woche, endlich.«
»Aber Sie wissen doch, dass er unschuldig ist, oder? Das haben Sie mir immer wieder versichert.«
»Dazu kann ich wirklich nichts mehr sagen.«
Jetzt bekam sie Angst. Wollte Roy etwa andeuten, dass Dallas ein Geständnis abgelegt hatte? Sie erhob sich und blickte auf ihn herunter. »Ich ertrage diesen Unsinn nicht, Roy. Setzen Sie mir keine dummen Ideen in den Kopf.«
Langsam hob er den Kopf und sah sie traurig an. »Sprechen Sie mit Dallas, Vivi Ann. Ich habe dafür gesorgt, dass Sie ihn morgen besuchen dürfen.«
»Und das war’s dann? Mehr haben Sie nicht für mich, nach all den Jahren?«
»Es tut mir leid.«
Sie wirbelte herum, ging zu Noah, packte seine Hand und zerrte ihn aus dem Büro, die Stufen der Kanzlei hinunter bis zum Wagen.
Den ganzen Weg nach Hause spielte sie die Szene immer wieder in ihrem Kopf durch, versuchte, sie zu verändern, abzumildern. Als sie bei Aurora angekommen war, schob sie Noah zu ihrer Schwester und sagte: »Ich kann mich heute Abend nicht mit ihm befassen.«
Sie hörte, wie Aurora ihr etwas nachrief, sie aufforderte zurückzukommen, aber sie achtete nicht darauf. Die Angst lauerte wie ein riesiges schwarzes Ungetüm am Rand ihres Bewusstseins, und sie wollte nur noch fort, vor ihren Gefühlen fliehen.
Als sie schließlich zu Hause war, knallte sie die Tür hinter sich zu und marschierte zum Arzneischränkchen. Sie warf mehrere Tabletten ein – viel zu viele, aber das war egal,
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