Das Geheimnis der Schwestern
kommen. Du hattest recht. Und jetzt will er sich von mir scheiden lassen.«
»Ich hatte in vielerlei Hinsicht unrecht, Vivi«, erwiderte Winona. Das waren die Worte, die sie viel zu spät aussprach.
»Ich weiß, du hältst mich für verrückt, weil ich ihn liebe, und du hasst mich, weil ich Luke weh getan habe, aber ich brauche deinen Rat, Win.« Da endlich sah Vivi Ann auf.
»Ich hasse dich nicht, weil du Luke weh getan hast«, entgegnete Winona seufzend. »Ich hab dich gehasst, weil er dich geliebt hat.«
Vivi Ann runzelte die Stirn und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Was?«
»Seit ich fünfzehn war, habe ich Luke Connelly geliebt. Das hätte ich dir sagen sollen.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Vivi Ann wieder etwas äußerte, und dann kamen ihre Worte so langsam heraus, als müsste sie einzeln nach ihnen suchen. »Du hast ihn geliebt. Jetzt ergibt wohl alles einen Sinn. Wir Greys«, sagte sie, »haben nicht viel Glück in der Liebe, nicht wahr? Was mache ich denn jetzt, Win?«
Winona wusste schon seit Jahren die Antwort auf diese Frage. Sie hatte gewartet, dass sie ihr gestellt würde, und ihre Antwort schon hundertmal vorformuliert. Aber erst jetzt begriff sie, wie grausam die Wahrheit war, und konnte sie nicht über die Lippen bringen.
»Sag’s mir«, bat Vivi Ann, und an dem Schmerz in ihrer Stimme erkannte Winona, dass Vivi die Antwort schon wusste; sie brauchte nur die Hilfe ihrer großen Schwester, um sie anzunehmen.
»Du musst Dallas vergessen und dich endlich um deinen Sohn kümmern. Und diese Pillen bringen dich um.«
»Noah verdient eine bessere Mutter als mich.«
Da endlich ging Winona zu Vivi Ann, nahm ihre Schwester in die Arme und ließ sie sich ausweinen. »Du kommst darüber hinweg, versprochen. Wir alle werden dir helfen. Eines Tages wirst du dich sogar neu verlieben.«
Vivi Ann sah auf, und in ihrem Blick lag eine Traurigkeit, die Winona bodenlos vorkam. »Nein«, sagte Vivi Ann schließlich, »das werde ich nie mehr.«
Teil 2
Danach
Ich möchte euch zeigen, was echter Mut ist, damit ihr nicht meint, ein Mann mit einem Gewehr in der Hand wäre mutig. Mut ist, wenn man schon vorher weiß, man hat im Grunde keine Chance, es aber trotzdem angeht und bis zum Ende durchsteht, ganz gleich, was kommen mag.
Atticus Finch, aus Harper Lee
Wer die Nachtigall stört
Achtzehn
2007
Es gab Orte, die sich mit der Zeit veränderten, und andere, die immer gleich blieben. Seattle zum Beispiel hatte sich in den letzten zehn Jahren fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Kombination aus Internet-Start-ups und Designer-Cafés hatte die einst leger gekleideten, Natur liebenden Einwohner dieser großen, schönen Metropole in moderne Städter verwandelt. Mittlerweile war Baulärm allgegenwärtig; gigantische orangefarbene Kräne wachten wie riesige Raubvögel über der sich ständig ändernden Skyline. Jeden Tag stieß ein neuer Wolkenkratzer in den grauen Himmel. Restaurants mit ambitionierter Fusion-Küche und unaussprechlichen Namen säumten die Straßen und schufen aufstrebende charakteristische Viertel, wo es vorher nur Gebäude und Straßenschilder gegeben hatte. Die berühmte Space Needle und der einst so bekannte Smith Tower sahen jeden Tag kleiner und älter aus und waren nicht mehr die stolzen Zwillingsmasten der Stadt, sondern nur noch ihre Buchstützen.
Auch Vivi Ann war erwachsen geworden. Mit neununddreißig hatte sie ihre jugendliche Energie und Zuversicht fast ganz verloren. Ein paar Mal im Jahr, wenn sie sich besonders einsam, rastlos und unruhig fühlte, fuhr sie nach Seattle.
Mit einem stichhaltigen Vorwand – einer Auktion für Reitbedarf oder einem Pferd, das zum Verkauf angeboten wurde – und einem zuverlässigen Babysitter versuchte sie, Trost in dunklen Bars zu finden, aber wenn sie sich von einem Mann nach Hause begleiten ließ – was selten genug geschah –, fühlte sie sich am Ende noch schmutziger und unglücklicher als vorher.
Und immer kehrte sie nach Oyster Shores zurück, wo sich nie etwas änderte. Natürlich wurden neue Häuser gebaut, und die Grundstückspreise waren gestiegen, aber noch war dieses Fleckchen Erde relativ unbekannt. Als Bill Gates ein paar Jahre zuvor sein Sommerhaus am Ufer des Hood Canal mit seinem vergleichsweise warmen Wasser errichtet hatte, hatten die Einheimischen befürchtet, andere Millionäre würden es ihm nachtun und ihre alten, bequemen Villen zugunsten riesiger McMansions am Ufer abreißen. Das war auch
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