Das Geheimnis der Schwestern
es draußen wirklich sonnig blieb, musste sie unbedingt mit dem Hochdruckreiniger auf die Terrasse. Hierzulande galt es, sonnige Tage im Juni zu nutzen.
Sie zog sich eine kurze Hose und ein altes, langes T-Shirt an. Während sie ihre Haare zu einem Pferdschwanz zusammenband, warf sie einen Blick aus dem schmierigen Schlafzimmerfenster und sah Noah auf dem Anleger, wo er den Vogeldreck vom alten, verwitterten Holzgeländer kratzen sollte.
Aber ganz ehrlich: Selbst Schnecken kamen schneller voran.
Außerdem hing seine Hose wieder so tief, dass sie von hier aus den Gummibund seiner blauen Boxershorts sehen konnte.
Er arbeitete nun seit fünf Tagen für sie, aber sie sah kaum Fortschritte. Jeden Morgen pünktlich um neun kam er und ging dann ohne ein Wort zum Anleger. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass er an den Tagen, die sie in die Kanzlei musste und ihn hier allein ließ, nur untätig herumsaß.
»Es funktioniert nicht. Nicht im mindesten«, murmelte sie und nahm sich eine Rolle Klebeband.
Sie marschierte energisch auf die Terrasse und ließ die Tür hinter sich zuknallen. Es reichte! Sie hatte ihm zwar einen Job gegeben, sie ertrug auch seine mürrische Miene und seine fettigen Haare, und sie tat sogar so, als würde er arbeiten, aber – bei Gott! – sie würde sich nicht ständig seine verdammte Unterhose ansehen!
Sie ging zum Anleger. Da es Ebbe war, federte die steile Treppe zum Steg unter ihren Füßen. Während sie vorsichtig zu ihm hinunterstieg, hielt sie sich krampfhaft am schmutzigen Geländer fest und achtete sorgfältig darauf, nur auf nacktes Holz zu fassen. »Noah.«
Er war so eifrig mit Nichtstun beschäftigt, dass ihre Stimme ihn erschreckte. Er zuckte zusammen und ließ den Metallspachtel fallen. »Herrgott! Warum hast du nicht vorher gerufen?«
»Klebeband ist schon eine ziemlich tolle Erfindung. Man kann damit alles Mögliche anstellen. Wusstest du das?« Sie zog ein Stück Band in der Länge ihres Arms heraus, riss es ab und klebte es sorgfältig der Länge nach zusammen.
»Ich hab noch nicht darüber nachgedacht, aber wenn du es sagst …« Er hob den Spachtel wieder auf. »Willst du mir damit vielleicht etwas zu verstehen geben? Ich weiß nicht, irgendwas Lehrreiches? Ansonsten mach ich mich wohl wieder an die Arbeit.«
»Das ist doch ein Witz, und wir beide wissen es. Hier.« Sie reichte ihm den schmalen, langen Streifen Klebeband.
»Was soll das sein?«
»Dein neuer Gürtel. Du musst ihn durch die Schlaufen stecken – das kannst du doch, oder? – und dann einen Knoten binden. Ich will nicht mal einen Millimeter deiner Unterhose sehen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst!«
»Seh ich aus, als machte ich Witze?«
»Das trägt man so«, beharrte er störrisch.
»O ja, und du bist der neue Giorgio Armani. Zieh den Gürtel an. Wenn du dich erinnerst, war das eine der Bedingungen dieses lächerlichen Unterfangens, das wir beide als ›Job‹ bezeichnen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Winona lächelte. »Weißt du, was mir am Stadtfest immer gefallen hat? Dass meine Hose, mein Hut und meine Handschuhe zusammenpassten. Sie waren alle in demselben Blau. Deine Mom nannte es Siegerdress. Alle, die ich kannte, haben mich so gesehen: als dicke, fette Blaubeere.«
Noah sagte nichts.
»Ich bin sicher, du wirst in dem Kostüm, das sie sich für dich ausgedacht hat, auch ganz prächtig aussehen. Deine Reitsachen schneidert sie doch immer noch selbst, oder?«
»Gib her«, sagte er und entriss ihr den provisorischen Gürtel. Es brauchte eine Weile, um ihn durch die Schlaufen zu fädeln und strammzuziehen, aber danach war seine Hose bis zur Taille hochgezogen und der Knoten so dick wie eine Kinderfaust. »Ich sehe aus wie ein Vollidiot.«
»Dem kann ich nicht widersprechen. Es könnte ganz hilfreich sein, Hosen zu kaufen, die dir auch passen.«
»Wenn du meinst.«
»Eine sehr nützliche Floskel. Mir ist aufgefallen, dass du sie besonders gern verwendest. Als dein Arbeitgeber allerdings würde ich es bevorzugen, wenn du in ganzen Sätzen mit mir sprechen würdest.«
Er starrte sie finster an. »Wenn du meinst … Tante Winona.«
»Das ist doch schon mal ein Fortschritt.« Sie wollte ihm gerade noch mal erklären, wie man den Vogeldreck abkratzte, als sie einen Wagen hörte. Sie schirmte mit einer Hand ihre Augen vor der Sonne ab und entdeckte einen großen gelben Möbelwagen, der die Einfahrt zum Nachbaranwesen hinauffuhr. »Ich frage mich, wer da einzieht«, sagte sie. »Da
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