Das Geheimnis der Schwestern
Sommer war es für Vivi Ann am leichtesten. Sie wachte weit vor Tagesanbruch auf und machte sich an die lange Reihe der Pflichten, die sie den ganzen Tag beschäftigt hielten. Es gab Reitunterricht, Pferdetraining und Turniere zu organisieren und abzuhalten, Pferde zu füttern und zu bewegen und das Stadtfest zu planen. Sie arbeitete von morgens bis abends, und das viel zu schnell, um noch über irgendetwas länger nachzudenken. Aber selbst in den hektischsten Zeiten gab es Nächte wie heute, wenn die Ranch still und dunkel dalag und die Sterne am Himmel funkelten und sie unwillkürlich daran denken musste, wie es sich angefühlt hatte, nachts aus ihrem Zimmer zu schleichen und über die Wiesen zu seinem Cottage zu rennen. Wie es sich angefühlt hatte, lebendig zu sein und ein sonniges Gemüt zu haben. Nicht so düster wie jetzt.
»Hey, Renegade«, sagte sie, als sie zur Koppel trat.
Das alte Pferd kam langsam zu ihr getrottet und wieherte leise zur Begrüßung. Sie gab ihm einen Apfel und kratzte ihm die Ohren. »Wie fühlst du dich, mein Junge? Quält dich die Arthritis? Brauchst du ein Schmerzmittel?«
Hinter ihr näherte sich ein Wagen; die Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit und erschreckten Renegade, der zurückwich.
Vivi Ann drehte sich um und sah, wie Winona und Noah aus dem Wagen stiegen. Sie gingen dicht beieinander und unterhielten sich. Winona sagte etwas und stieß ihn an. Er taumelte leicht zur Seite und lachte.
Vivi Ann traute ihren Augen nicht. Sie wusste nicht, ob sie je gesehen hatte, dass die beiden miteinander sprachen oder gar lachten.
Zur Begrüßung ging sie ihnen entgegen.
»Hey, Mom«, sagte Noah grinsend. Sein Anblick verschlug ihr die Sprache. Er trug Badeshorts und ein ärmelloses T-Shirt, hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und wirkte vollkommen entspannt. Glücklich. »Ich habe heute Wasserskifahren gelernt. War total cool. Ich hab ziemlich lange gebraucht, um aufzustehen, aber als es endlich ging, war es einfach klasse. Stimmt doch, oder, Tante Winona?«
»Ich hab noch nie so ein Naturtalent gesehen. Er ist wie ein Profi über die Kielwelle gefahren.«
Vivi Ann musste lächeln. Einen Augenblick lang war ihre Welt vollkommen. »Super, Noah. Ich kann’s kaum abwarten, es selbst mal zu sehen.«
»Ich schreib was darüber in meinem Tagebuch«, erklärte er. »Danke, Tante Winona. Das war echt toll.«
Vivi Ann sah ihm nach, als er im Haus verschwand, und wandte sich dann zu ihrer Schwester. »Was hast du mit meinem Sohn gemacht? Und wer ist dieser Junge?«
Winona lachte. »Wir hatten wirklich viel Spaß miteinander.«
Vivi Ann schlang einen Arm um ihre Schwester. »Ich spendier dir ein Bier. Komm.«
Sie holten sich jede ein Bier aus dem Kühlschrank und kehrten auf die Veranda zurück. Dann setzten sie sich dicht beieinander auf die Hollywoodschaukel und starrten hinaus auf die stille Ranch.
»Es ist wie ein Wunder, ihn wieder lachen zu sehen.«
»Unter dem ganzen pubertären Gehabe ist er ein ziemlich netter Junge.« Winona verstummte kurz. »Er hat viele Fragen zu seinem Dad.«
»Ich weiß.«
»Dieses Alter ist schon schwer genug, ohne dass man anders aussieht und sich anders fühlt, aber wenn man dann auch noch ständig Bemerkungen über seinen Dad hört … du weißt schon.«
»Ich hab mich immer vor diesem Gespräch gefürchtet, obwohl ich weiß, dass wir es führen müssen. Aber er wird mich fragen, ob Dallas es getan hat.«
»Was wirst du dann sagen?«
»Wenn ich sage, er hat’s getan, ist Noah der Sohn eines Mörders. Wenn ich sage, er hat’s nicht getan, dann sitzt sein Vater für einen anderen im Gefängnis, und es ist schwer, mit einer solchen Ungerechtigkeit zu leben. Glaub mir: Das weiß ich genau. Also, sag du’s mir, Obi-Wan, wie lautet die richtige Antwort?«
Winona dachte darüber nach. »Als ich noch klein war, hat Mom immer zu mir gesagt, ich wäre schön, hätte aber starke Knochen. Ich wusste, dass das nicht stimmte, schließlich hatte ich einen Spiegel. Aber ich wusste auch, dass sie es glaubte, und das war das Entscheidende. Ich wusste, sie liebt mich.« Sie drehte sich zu Vivi Ann. »Gib ihm zu verstehen, dass er ein guter Junge ist, ganz gleich, was die anderen meinen. Sag ihm, dass es unwichtig ist, wie sein Vater war. Wichtig ist nur, wie er ist.«
Vivi Ann lehnte sich an ihre große Schwester. Bei Gelegenheiten wie diesen war sie froh, dass sie Winona vor all den Jahren verziehen hatte. »Danke.«
»Gern geschehen.
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