Das Geheimnis der Schwestern
Was mache ich, wenn er mir Fragen stellt?«
»Dann solltest du sie wohl beantworten. Vielleicht hilft ihm das.«
Winona starrte auf ihr Bier.
»Okay«, sagte Vivi Ann, als sich das Schweigen zwischen ihnen ausdehnte. »Spuck’s aus.«
»Was meinst du?«
»Normalerweise kannst du nie lange still sein. Worüber denkst du nach?«
»Der Mann, mit dem wir heute Wasserski fahren waren, ist Mark Michaelian. Myrtles Sohn. Er hat fünf Jahre vor mir die Schule beendet.«
»Ach.« Vivi Ann trank einen großen Schluck von ihrem Bier.
»Er hat mich gebeten, mit ihm auszugehen. Macht es dir was aus?«
Vivi Ann lehnte sich zurück und stieß sich sanft ab. Die Schaukel bewegte sich langsam vor und zurück.
Um sie herum hörte man die vertrauten Geräusche der Ranch: das ferne Rauschen des Kanals, das Getrappel der Pferde auf den Weiden und das leise Quietschen der Schaukelketten.
»Wenn du es verlangst, sage ich die Verabredung ab«, sagte Winona.
Vivi Ann wusste, dass sie es ernst meinte. Was ihre Vergangenheit betraf, mochte vielleicht alles im Dunkeln verstaut worden sein, aber es war noch da. Und sie alle waren darauf bedacht, es nicht wieder hervorzuholen. Es sollte nicht derselbe Fehler zweimal gemacht werden. »Du hattest seit zwei Jahren keine ernstzunehmende Verabredung. Nicht mehr, seit der Meeresbiologe hier den Sommer verbrachte.«
»Danke für den Hinweis.«
»So hab ich das nicht gemeint. Ich meinte … Na klar, geh mit Mark aus. Meinen Segen hast du.«
»Ehrlich?«
Vivi Ann nickte. »Ehrlich.«
Diese Entscheidung erschien Vivi Ann richtig. Sie fühlte sich, als hätte sie endlich losgelassen.
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.«
Heute war ein so vollgepackter Tag, dass ich nicht mal Mrs I’s bescheuerte Fragen brauche, um etwas zu schreiben. Ich hab das Gefühl, wenn ich nicht alles sofort zu Papier bringe, werde ich es vergessen. Und ich WILL ES NIE MEHR VERGESSEN.
Dabei fing es ziemlich beschissen an. Ich sah einfach nicht, wie sich je etwas ändern sollte. Als ich bei Tante Winona auftauchte, war sie mir gegenüber arrogant wie immer und sah mich an, als hätte sie gerade ein Stück schlechten Fisch gegessen. Ich zog meine Hose so weit wie möglich runter, um sie auf die Palme zu bringen, und das funktionierte offenbar, denn gegen Mittag kam sie mit einem langen Stück Klebeband zum Anleger, das ich als Gürtel benutzen sollte. Eigentlich hätte ich ihr gesagt, sie sollte sich verziehen, aber dann fing sie an, vom Stadtfest und dem Kostüm zu reden, das Mom mir letztes Jahr aufzwang, und da bekam ich es mit der Angst. Ich stellte mir vor, wie Erik Junior, Brian und die anderen Arschlöcher mich mit einer Schar kleiner Mädchen reiten sehen würden, und entschied mich doch lieber für das Klebeband. Danach fühlte ich mich wie ein kompletter Loser, aber daran bin ich ja schon gewöhnt, außerdem sah mich sowieso keiner. Aber ich arbeitete noch ein bisschen langsamer, weil ich weiß, dass sie das auch auf die Palme bringt. Manchmal sehe ich sie oben auf ihrer dämlichen Terrasse stehen, dann beobachtet sie mich beim Arbeiten, und ich kann förmlich hören, wie sie mit den Zähnen knirscht. Am liebsten würde sie mich feuern, aber das Coole ist, dass sie das nicht kann.
Jedenfalls lungerte ich weiter untätig herum, da blickte ich zufällig zum Haus hoch und sah zwei Fremde im Garten mit meiner Tante sprechen. Das fand ich ziemlich komisch, deshalb legte ich den Kratzer weg und ging zu ihnen, obwohl meine Tante es hasst, wenn ich meine Arbeit unterbreche. Als ich näher kam, sah ich, dass der Mann einer von den Typen war, die ihre Haare am besten einfach aufgeben und abrasieren sollten. Er war angezogen wie ein Barmann, aber ich musste ständig das Mädchen neben ihm anstarren.
Sie war das schönste Mädchen, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Das Erstaunlichste war, dass sie mich überhaupt nicht so ansah, als wäre ich nur ein blöder Indie. Als ihr Dad uns zum Wasserskifahren mitnahm, wollte sie unbedingt neben mir sitzen und so. Sie erzählte, sie und ihr Dad wären ein Jahr lang durch die Welt gereist und jetzt zurück nach Oyster Shores gekommen. Und sie war ziemlich depri, weil ihre Freunde alle in Minnesota sind. Dann fragte sie mich, ob ich morgen mit ihr abhängen wollte. Ich weiß, sie wird nicht mehr mit mir befreundet sein wollen, wenn sie erst mal den ganzen Scheiß in der Stadt hört und herausfindet, dass keiner mich ausstehen kann.
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