Das Geheimnis der Schwestern
veranlasst hast, von dir das Schlechteste anzunehmen.«
»Wie soll ich das je wieder in Ordnung bringen?«
»Du warst schlau genug, um deinen Gefängnis-Masterplan zu schmieden. Wenn du dir Mühe gibst, wirst du dir bestimmt auch einen Wiedergutmachungsplan ausdenken können.«
»Das werde ich.«
»Berücksichtige dabei aber, dass du nicht das Haus verlassen darfst, denn bis zum Schulanfang hast du Hausarrest. Du wirst die Ranch nur verlassen, um zur Kirche oder zu Mrs Ivers zu gehen.«
»Aber, Mom …«
»Glaub mir, alles hat seinen Preis, auch Liebe. Das kannst du ohne weiteres auch jetzt schon lernen.«
Dreiundzwanzig
Als ich noch klein war, hatten wir ein altes Pferd namens Clementine’s Blue Ribbon. Mom setzte mich immer darauf, wenn sie Unkraut zupfte. Dann stand Clem mit mir auf dem Rücken einfach nur da. Sie folgte mir auch wie ein Hund über die Weide, und manchmal kam sie abends ganz dicht an mein Fenster getrottet und wieherte. Mom sagte, das hieße in der Pferdesprache: Gute Nacht, du besonderer Junge. Eines Tages aber sagte Mom zu mir, Clem wäre jetzt im Himmel. Als ich zu ihrem Stall ging, war er leer.
Damals lernte ich, dass man verlieren kann, was man liebt.
Genau so fühle ich mich auch jetzt. Seit ich meinem Dad geschrieben habe, bin ich – ich weiß noch nicht mal, welches Wort ich dafür verwenden soll. Nicht traurig und auch nicht wütend. Leer vielleicht. Ich gehe jeden Tag zum Briefkasten, aber nie ist etwas für mich da.
Cissy hat sich auch nicht gemeldet, weder telefonisch noch per E-Mail oder SMS . Es ist, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Ich weiß, was passiert ist. Meine Mom hatte recht. Sie hat sich auf die Seite ihres Dads geschlagen. Das verstehe ich sogar. Aber es tut so weh, dass ich manchmal nicht mal Licht in meinem Zimmer machen oder auch nur aufstehen will.
Ich muss ständig an sie denken. Ich weiß noch, wie sie sich den Plan ausdachte und sagte, dass niemand das Recht hat, mich von meinem Dad fernzuhalten. Die ganze Fahrt zum und vom Gefängnis hielt sie meine Hand. Den ganzen Heimweg meinte sie immer wieder, wie cool es sein würde, wenn ich eines Tages wirklich mit ihm reden könnte.
Sie wusste, wie sehr ich das brauchte.
Vielleicht bin ich das, Mrs Ivers, ein Junge, der etwas braucht, was er nicht kriegen kann. Ich brauche Cissy und ihre Liebe, und ich brauche einen Dad, mit dem ich reden kann.
Was wohl heißt, dass ich im Arsch bin.
Heute hab ich mich an der Highschool angemeldet. Mrs Ivers hat Mom gesagt, ich hätte Literatur mit Bravour bestanden. Was auch immer das heißen mag. Mom ist glücklich und ich wohl auch. Schließlich heißt das, dass ich Cissy am Mittwoch, wenn die Schule anfängt, wiedersehen werde.
Wie soll ich sie ansehen, ohne mich wie ein Depp zu benehmen? Ich weiß, dass Erik Junior sich sofort an sie ranmachen wird. Sie ist derart heiß, dass er bestimmt mit ihr zusammen sein will. Wie soll ich mir das ansehen, ohne Amok zu laufen?
Vielleicht melde ich mich das ganze Jahr krank.
Eigentlich wollte ich nichts mehr in dieses Heft schreiben, das Mrs Ivers mir gegeben hat, aber heute war ein so toller Tag, dass ich nicht eine Sekunde davon vergessen will.
Da stand ich also wie ein totaler Loser an der Fahne, während alle anderen um mich herum sich kreischend begrüßten, weil sie es so cool fanden, sich wiederzusehen. Ich finde, das Schlimmste ist es, in einer Menge allein zu sein. Alle gehören irgendwohin, nur man selbst nicht. Letztes Jahr wäre ich sauer geworden. Ich hätte mich umgeschaut, die grinsenden Schüler gesehen und sie gehasst. Wenn jemand mich schief von der Seite angeguckt hätte, hätte ich ihm den Stinkefinger gezeigt. Es gibt verschiedene Wege, Streit anzufangen. Das weiß ich jetzt wohl.
Jedenfalls stand ich da und wünschte, ich hätte meine alten Lieblings-Vans angezogen und nicht die dämlichen Nikes, die Mom mir aufgezwungen hat. Da sah ich Cissy. Sie stand mit Direktor Jeevers zusammen an der blauen Metalltür, und der Direktor quatschte sie voll. Überall waren Schüler, die lachten, redeten, Hacky-Sack spielten, iPod hörten und telefonierten. Der ganz normale Wahnsinn am Schulanfang.
Trotzdem bemerkte sie mich sofort.
Ich wartete, ob sie lächeln würde. Als nichts kam, haute ich ab, ging einfach zu dem schmalen Gang zwischen der Turnhalle und dem Versammlungssaal, wo es dunkel und still war.
Dort schloss ich die Augen und lehnte mich gegen die warme Steinwand, doch plötzlich hörte ich sie
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