Das Geheimnis der Schwestern
eigentlich immer so verdammt selbstsicher? Selbst wenn du völlig falschliegst?«
»Ich, selbstsicher?« Winona lachte. »Das soll wohl ein Witz sein.«
»Du benimmst dich ständig wie der Elefant im Porzellanladen.«
Winona blickte ihre Schwester an und sah die Verletzlich keit und den Schmerz in ihren Augen. »Der alles kaputtmacht. Das willst du doch damit sagen, oder nicht?«
»Nein«, widersprach Vivi Ann, aber ihr Blick strafte sie Lügen.
Bevor Winona etwas darauf erwidern konnte, klingelte ihr Handy. Sie holte es aus ihrer Manteltasche und sah, dass der Anruf von ihrer Kanzlei kam. »Winona hier.«
Da sprang die Tür vom Cottage auf, und Noah kam mit nassen Haaren und Kleidern hereingestürzt. Seinen Rucksack schleifte er hinter sich her. »Tante Winonas Auto –«
»Schuhe aus«, sagte Vivi Ann entnervt.
Noah ließ seinen Rucksack fallen und schleuderte die Schuhe von den Füßen; sie flogen ins Esszimmer, knallten gegen die Wand und landeten auf dem Boden. »Gibt’s was Neues?«
Winona bat mit erhobener Hand um Ruhe, um zu hören, was Lisa ihr mitzuteilen hatte. »Danke«, sagte sie schließlich und beendete das Gespräch.
»Und?«, fragte Noah.
Winonas Herz klopfte so heftig, dass ihr schwindelig wurde. »Unserer Eingabe ist stattgegeben worden«, erklärte sie und stand vor lauter Nervosität auf. »Die DNA -Spuren vom Tatort werden analysiert.«
Noah jubelte vor Begeisterung. »Ich wusste es! Du hast es geschafft, Tante Winona!«
»Wir haben es geschafft«, erwiderte sie. Sie konnte es kaum glauben.
»Sag’s ihm«, forderte Vivi Ann mit einer Stimme, die so kalt und spröde war wie eine dünne Eisschicht. Sie klammerte sich an den Sofatisch.
»Was denn?«, fragte Winona mit gerunzelter Stirn.
»Was noch alles schiefgehen kann. Wag es ja nicht , ihn jetzt einfach mit der Vorstellung ins Bett gehen zu lassen, von nun an sei alles nur noch eine Frage der Zeit, und er müsse sich höchstens überlegen, was er zu Dallas sagt, wenn er erst mal wieder da ist.«
Am liebsten hätte Winona ihre zutiefst verletzte Schwester in den Arm genommen und getröstet, so wie früher. Stattdessen sagte sie ganz sanft: »Lass ihn doch seinen Sieg auskosten.«
»Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst. Trotzdem: meinen Glückwunsch«, erwiderte sie. »Dallas hat Glück, von dir vertreten zu werden.« Sie marschierte an ihnen vorbei in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
»Einfach nicht drauf achten«, meinte Noah. »In letzter Zeit ist sie entweder wütend oder weint. Einfach erbärmlich. Also: Wenn die DNA nicht mit Dads übereinstimmt, dann müssen sie ihn doch freilassen, oder?«
»So einfach ist das nicht. Aber die Möglichkeit besteht.«
»Du meinst, er müsste trotzdem noch den Rest seines Lebens im Gefängnis bleiben? Selbst wenn es nicht seine DNA ist?«
»Ja«, sagte sie und sah zum Zimmer ihrer Schwester. Mit dieser Entscheidung hatte sich alles verändert. Eine abgelehnte Petition hätte alle auf Start zurückkatapultiert; mit der Zeit hätten sie sich wieder versöhnt, und alles hätte wie früher seinen normalen Gang genommen. Aber jetzt war es anders. Es war der Beginn einer neuen, klar umrissenen Hoffnung. Plötzlich verstand sie jedes Wort, das Vivi Ann ihr an den Kopf geworfen hatte.
Sie hatte dem bis jetzt nicht ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet, weil ihre Zwillingsfehler – Ehrgeiz und Selbstgerechtigkeit – sie gegenüber ihrer Umwelt unempfänglich gemacht hatten. Sie hatte sich nur darauf konzentriert, etwas geradezurücken, ihren eigenen Fehler wiedergutzumachen; zu sühnen. Jetzt sah sie, dass Vivi Ann versucht hatte, ihren Sohn zu schützen. Ihre Schwester hatte die ganze Zeit gewusst, dass man eine Schlacht gewinnen, aber einen Krieg verlieren konnte.
In den darauffolgenden Monaten fragte sich Winona oft, wie Dallas es eigentlich im Gefängnis aushielt. Das Warten auf die Testergebnisse war wie ein tropfender Wasserhahn im Hinterkopf. Sie wusste, dass dies Noah genauso an den Nerven zerrte wie ihr. Wie Vivi Ann vorausgesagt hatte, verlor er jeden Tag ein bisschen mehr von seiner Selbstbeherrschung: schwänzte die Schule, verhaute Arbeiten, geriet in Prügeleien.
Aber richtige Sorgen machte sich Winona um Dallas. Sie besuchte ihn regelmäßig jede Woche; doch immer öfter saßen sie einfach nur da, ohne ein Wort zu wechseln. Der April ging in den Mai und dann in den Juni über. Die Touristen kehrten nach Oyster Shores zurück und brachten Lärm,
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