Das Geheimnis der Schwestern
nicht, dass du das Gleiche durchmachen musst wie ich.«
»Ich muss an ihn glauben, Mom«, sagte er.
»Ein Sohn sollte das auch. Und der Mann, den ich geheiratet, den ich geliebt habe, ist es auch wert. Dieser Mann ist dein Vater, nicht der Mörder, von dem du dein ganzes Leben gehört hast. Aber versuche doch bitte … zu verstehen, warum ich dir in dieser Sache nicht beistehen kann. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich bin einfach nicht stark genug.«
Noah griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Aber du warst damals allein. Ich hab doch dich.«
Winona stand am Fenster ihres Strandhauses und beobachtete die Straße. Es war der neunte Januar, ein kalter Tag mit drohenden Wolken, die ein Unwetter ankündigten. Der tiefhängende graue Himmel entsprach ihrer Stimmung und ließ draußen alles blass und öde wirken. Kein vielversprechender Start fürs neue Jahr.
Jenseits der Bäume kam der Schulbus in Sicht und hielt kurz an Marks Einfahrt. Als er wieder losfuhr, stand sie immer noch da und starrte auf den öden, wintertristen Garten. Es war Montagmorgen, und plötzlich überkam sie ein Anflug von Einsamkeit.
In der Nacht zuvor hatte sie stundenlang in ihrem verwaisten Bett gelegen und überlegt, wie sie sich gegenüber Mark verhalten sollte. Sie hatte ihm Zeit gelassen, sich wieder zu beruhigen, weil sie annahm, eines Abends würde er einfach herüberkommen und sich entschuldigen. Aber das war nicht geschehen. Der November war in den Dezember übergegangen, und als das neue Jahr anbrach, war er immer noch nicht zu ihr gekommen. Sie hatte sorgsam darauf geachtet, oft zu Hause zu sein, hatte bis spät in die Nacht ihr Licht angelassen, aber vergeblich.
Am Abend zuvor war ihr zum ersten Mal in den Sinn gekommen, dass er vielleicht auf sie wartete. Schließlich hatte sie einen Fehler gemacht (weil sie ihm nicht von der Petition erzählt hatte, was, wie sie jetzt einsah, falsch gewesen war), also wartete er möglicherweise auf ihre Entschuldigung.
Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam ihr das vor.
Sie zog sich sorgfältig an, warf sich ihren Wollmantel über und machte sich auf den Weg zum Nachbarhaus. Sie zögerte nur kurz, bevor sie den Natursteinpfad hinaufging und an der Tür klingelte.
Kurz darauf öffnete er. Er trug Bademantel und Pantoffeln und hatte noch nasse Haare vom Duschen. »Hey«, sagte sie mit unsicherem Lächeln. »Ich dachte, du wartest vielleicht auf eine Entschuldigung von mir.«
Das Lächeln, auf das sie so verzweifelt gehofft hatte, blieb aus. »Winona«, sagte er ungeduldig, »das haben wir doch schon besprochen. Viel zu oft.«
»Ich weiß, du liebst mich.«
»Nein, ich liebe dich nicht.«
»Aber –«
»Hast du je mit meiner Mutter gesprochen? Hast du sie gewarnt, dass Ärger auf sie zukommen könnte? Sie wird täglich von Reportern angerufen. Sie ist so außer sich, dass sie kaum noch vor die Tür tritt.«
»Ich hab nie behauptet, dass Myrtle im Zeugenstand gelogen hat.«
»Ach, nicht?«
»Es passiert ständig, dass sich Zeugen irren. Ich habe Nachforschungen angestellt …«
»Wie auch immer: Jedenfalls behauptest du, es sei ihr Fehler gewesen, und die ganze Stadt weiß es.«
»Das verstehst du nicht.«
» Du verstehst nicht. Mit deinem Kreuzzug stößt du allen vor den Kopf. Erwartest du wirklich, dass wir das einfach so akzeptieren?«
»Ich dachte jedenfalls, du würdest es akzeptieren, Mark. Du kennst mich doch. So etwas würde ich doch niemals ohne guten Grund tun. Es ist einfach richtig. Ich hätte es schon vor langer Zeit tun sollen.«
»Genau das ist der Punkt: Ich kenne dich nicht. Offenbar habe ich dich nie gekannt. Leb wohl.« Er trat einen Schritt zurück und schloss die Haustür.
Den ganzen Weg zurück zu ihrem Haus und auf der Fahrt in die Stadt hallte in ihr Marks Nein, ich liebe dich nicht nach. Sie wusste nicht, was schlimmer war: die Vorstellung, dass er sie nicht mehr liebte, oder die, dass er sie nie geliebt hatte. Zum ersten Mal seit Jahren sehnte sie sich danach, mit Luke zu reden, sich einfach mit ihm zusammenzusetzen, so wie in ihrer Kindheit, und ihn zu fragen, was mit ihr nicht stimmte, warum niemand sie liebte, warum sie jeden vergraulte. Doch in den Jahren seiner Abwesenheit war ihre Freundschaft eingeschlafen. Er rief nur noch ein-, zweimal im Jahr an, und dann sprachen sie meist über seine Kinder und ihre Karriere.
In der Stadt angekommen, fuhr sie in ihre Garage, ging ums Haus herum und betrat ihre
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