Das Geheimnis der Schwestern
Entscheidung missbilligten, dass ihr Vater sie dafür verachtete und Vivi Ann deswegen Todesqualen ausstand. Diese Last trug Winona bereitwillig, während sie auf die Antwort des Gerichts wartete.
Aber im April wurde das Warten langsam unerträglich. Sie hatte Klienten verloren und verbrachte manchmal ganze Tage mit Recherche in der Universitätsbibliothek von Seattle.
Am Donnerstag, dem dritten April, arbeitete sie in Seattle und fuhr dann gemächlich heim, weil nichts sie nach Hause lockte. Als sie an ihrem Strandhaus vorbeikam, warf sie kaum einen Blick auf das Schild ZU VERMIETEN . Seit der Trennung von Mark verbrachte sie die meiste Zeit in ihrem Stadthaus; ehrlich gesagt fand sie es zu schwierig, in seiner Nähe zu sein, ohne ihn sehen zu dürfen.
Doch anstatt jetzt in ihre eigene Einfahrt einzubiegen, fuhr sie weiter nach Water’s Edge. Sie war das Alleinsein leid.
Gerade als Winona aus dem Wagen stieg, hörte es auf zu regnen, so dass ihr im Sonnenschein die Schönheit von Water’s Edge wieder einmal bewusst wurde. Die Weiden leuchteten in üppigem Grün, die Zäune waren alle kürzlich schwarz gestrichen worden, und die Bäume an der Zufahrt – Dallas’ Bäume – erinnerten mit ihren unzähligen Blüten an rosafarbene Zuckerwatte. Ein paar vereinzelte Blüten schwebten um sie herum. In den letzten zehn Jahren war mit dem Erfolg auch die notwendige Grundsanierung der Ranch gekommen. Mittlerweile war jedes einzelne Gebäude instand gesetzt worden. Der Parkbereich war mit frischem schwarzem Teer bedeckt. Normalerweise standen dort etliche Trucks und Pferdeanhänger, aber jetzt, in diesem kurzen Intervall zwischen Tag und Nacht, wirkte er verlassen.
Als Winona Licht im Reitstall sah, ging sie dorthin.
Vivi Ann stand allein in der Arena und mühte sich ab, ein großes gelbes Fass in Position zu rollen.
Winona trat in das staubige Innere und rief: »Hey, brauchst du Hilfe dabei?«
»Bleib, wo du bist. Sonst ruinierst du deine Schuhe.« Vivi Ann hievte das Fass an die Spitze eines imaginären Dreiecks, wischte sich den Staub von den Arbeitshandschuhen und kam auf Winona zu. In dem trüben Licht – das vom Staub auf der Deckenbeleuchtung gedimmt wurde – wirkte sie unendlich müde und gleichzeitig unbeschreiblich schön. Die Jahre hatten ihren Tribut von ihr gefordert. Sie war dünner geworden, ihr Gesicht wirkte fast mager, aber selbst die Krähenfüße an ihren Augen konnten ihre Schönheit nicht mindern. Sie gehörte zu den Frauen wie Audrey Hepburn oder Helen Mirren, die in jedem Alter eine Augenweide waren. Früher wäre Winona neidisch darauf gewesen; aber jetzt sah sie mehr als das makellose Gesicht ihrer Schwester: Jetzt sah sie auch den Schmerz in ihren grünen Augen.
»Ist heute Abend Barrel-Racing-Training?«, fragte sie.
»Wie jeden Donnerstag seit fünfzehn Jahren.« Vivi Ann zog ihre braunen Arbeitshandschuhe aus und steckte sie sich in den Gürtel.
Als sie am Reitstall vorbeigingen, fing es an zu regnen. Winona spürte, wie ihr die kalten Tropfen aufs Gesicht fielen und ihre Sicht trübten, aber sie erhöhten nicht ihr Tempo. Sie waren hier aufgewachsen; ein bisschen Regen konnte ihnen nichts anhaben.
Im Cottage streifte Winona Mantel und Pumps ab und setzte sich aufs Sofa im Wohnzimmer. Es war schon lange her, seit Vivi Ann und sie allein in einem Raum gewesen waren. Wahrscheinlich seit Einreichung ihrer Petition. Da Vivi Ann zu viel Angst hatte, darüber zu sprechen, gleichzeitig aber am liebsten ständig darüber geredet hätte, hielt sie sich lieber von Winona fern. Wie schon seit Jahren bekämpfte sie Angst, Sorge und Schmerz mit Arbeit und machte einfach nur stur weiter.
Jetzt starrte sie hinaus in den Regen. Die Fensterscheibe reflektierte ihr Gesicht, aber so verschwommen, dass es aussah, als würde sie lächeln. Das sanfte Plätschern des Regens auf dem Dach ersetzte jedes Gespräch. Winona hätte es dabei belassen können, hätte einfach schweigen und nur dem vertrauten Geräusch lauschen können, aber das hielt sie nicht aus. »Ich hätte Dallas’ Fall schon von Anfang an übernehmen sollen, Vivi Ann«, gestand sie. Sie hatte lange auf die Gelegenheit gewartet, das zu sagen.
»Das ist doch längst Vergangenheit, Win.«
»Du sollst wissen, wie leid es mir tut, dass dich die neue Eingabe so aufregt.«
»Aber es tut dir nicht leid, dass du den Fall übernommen hast?«
»Wieso sollte mir das leidtun?«
Da endlich drehte sich Vivi Ann zu ihr um. »Wieso bist du
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