Das Geheimnis der Schwestern
Kanzlei.
Lisa saß schon am Schreibtisch und gab etwas in ihren Computer ein. »Ihr Vater ist im Wintergarten. Er hat schon auf der Frontveranda gewartet, als ich um acht Uhr kam.«
»Danke.« Winona zog ihren Mantel aus und ging in den Wintergarten.
Ihr Vater saß übertrieben gerade in dem antiken weißen Rattansessel an der Flügeltür. Er hatte die Füße nebeneinandergestellt und seine schwieligen, knochigen Hände auf die Oberschenkel gelegt. Sie sah, dass seine Finger auf den ausgebleichten Jeans zitterten. Seine weißen Haare waren dünn und lugten unordentlich unter dem braunen speckigen Cowboyhut hervor. Selbst im Profil war zu sehen, dass er die Zähne fest zusammenbiss.
»Hallo, Dad«, sagte sie und näherte sich ihm.
Er setzte seinen Hut ab, legte ihn auf die Knie und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Du musst das stoppen.«
Sie nahm auf dem Sofa ihm gegenüber Platz. Sie wusste, jetzt war die Gelegenheit, ihren Standpunkt deutlich zu machen. »Was ist, wenn wir uns geirrt haben?«
»Haben wir nicht.«
»Vielleicht doch.«
»Lass es, Winona. Die Leute reden schon über uns.«
Winona stand auf. » Nur das interessiert dich. Die großartigen Greys und ihr kostbarer Ruf. Du würdest lieber einen Unschuldigen im Gefängnis verrotten lassen, als einen Fehler zuzugeben. Du interessierst dich wirklich nur für dich selbst. Das war schon immer so.«
Er stand so langsam und unsicher auf wie immer in letzter Zeit, doch in seinen Augen sah man keinerlei Anzeichen von Schwäche. Der Blick, den er ihr zuwarf, war kalt und finster. »So redest du nicht mit mir.«
»Nein: Du redest nicht so mit mir.« Fast hätte sie gelacht, doch sie befürchtete, hysterisch zu klingen. »Weißt du eigentlich, wie lange ich schon von dir hören möchte, dass du stolz auf mich bist?« Ihre Stimme zitterte, als sie das sagte, weil sie wieder schmerzlich ihre Bedürftigkeit spürte, die so viele Jahre zuvor ihren Anfang genommen hatte, dass sie sich kaum noch daran erinnerte. »Aber das wird nie geschehen, nicht wahr? Doch weißt du was? Das ist mir mittlerweile egal. Ich tue das Richtige, was Dallas betrifft, und sollte ich mich irren, kann ich damit leben, aber dann muss ich nicht den Rest meines Lebens darüber nachdenken, ob ich nicht einen großen Fehler begangen habe.«
Damit drehte sie sich um, verließ den Wintergarten und lief hinauf in ihr Schlafzimmer. Dort ging sie zum Fenster, blickte hinaus und sah, wie ihr Vater langsam zu seinem Wagen schlurfte. Ohne einen Blick zurück fuhr er davon.
Siebenundzwanzig
Die Wochen zwischen Winter und Frühling 2008 gehörten zu den regenreichsten von Oyster Shores seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Von Mitte Februar bis Ende März fiel fast ununterbrochen Regen und verwandelte das Land in eine schwammartige, matschige Masse aus Grün und Braun.
Winonas Leben hatte sich innerhalb der vergangenen fünf Monate fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ihr stiller Kampf hatte unvorhergesehene Folgen.
Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Sie war so überzeugt, das Richtige zu tun, dass ihr jede andere Ansicht dazu einfach nur absurd erschien. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass Dallas Unrecht widerfahren war, musste dies schlicht und einfach untersucht werden. Wie war es nur möglich, dass die Menschen, die sie ihr ganzes Leben schon kannte, dies nicht einsahen?
Natürlich bekam sie Unterstützung, wenn auch nur stillschweigende. Aurora und Noah kämpften an vorderster Front mit ihr; sie waren ihre Fußsoldaten in dieser Schlacht. Vivi Ann hielt sich abseits – einer der schlimmsten Aspekte in dieser Angelegenheit. Dieser winzige Anflug von Hoffnung hatte ihre Schwester um Meilen zurückgeworfen, so dass sie wie früher lethargisch und orientierungslos war. Ihr Dad war einfach nur stinksauer. Er machte Winona dafür verantwortlich, dass sie sich vor der Öffentlichkeit schämen mussten. Erst letzte Woche hatte er in der Eagles Hall getönt: »Dieses Mädchen muss immer im Mittelpunkt stehen. Dabei könnte man doch erwarten, dass die Familie an erster Stelle steht.«
Dies schmerzte am meisten, tat sie doch all das für Vivi Ann und Noah. Aber nachts, wenn sie in ihrem Bett lag, das ihr ohne Mark noch leerer erschien als früher, wusste sie, dass es bei ihrem Wunsch, Dallas freizubekommen, um Absolution ging. Vielleicht für alle; vor allem aber für sie.
Also schluckte sie alles. Sie ertrug es, dass viele ihrer Freunde und Nachbarn ihre
Weitere Kostenlose Bücher