Das Geheimnis der Schwestern
ging über die gewachsten Eichendielen bis zu dem ovalen blauen Flickenteppich, der schon ihr ganzes Leben dort gelegen hatte. »Dad?«
Sie hörte Eiswürfel klirren und sah ihn in seinem Arbeitszimmer. Er starrte auf den Garten und den dunkelvioletten Kanal dahinter. Sie hatte damit gerechnet, ihn dort zu finden; es war sein Lieblingsplatz, wenn er unglücklich war. Ein ganzes Jahr nach Moms Tod schien er dort praktisch festgewachsen zu sein. Nur Vivi Ann, die nie Angst davor gehabt hatte, einfach seine Hand zu fassen und daran zu ziehen, hatte ihn von dort weglotsen können.
»Dad?«, fragte sie noch einmal.
Ihr Vater trank einen Schluck von seinem Bourbon und sagte, ohne sich umzudrehen: »Willst du mir wieder mal sagen, was ich mit meinem eigenen Land anfangen soll?«
Da erkannte sie, dass sie verloren hatte. Er hatte sich für Vivi Ann entschieden – wieder mal. Typisch. Jetzt musste Winona sich entscheiden, ob sie mitspielen oder außen vor bleiben wollte. Das war einfach. »Ich hab Geld auf der Bank. Wahrscheinlich wird es für die Bullen und einen größeren Traktor reichen. Die Schutzwände für die Bullen dürften sich auf die Materialkosten beschränken. Wir haben viele Freunde, die uns nur zu gerne beim Bau behilflich sein würden.«
Langsam drehte er sich zu ihr um. »Ich soll Geld von dir nehmen?«
Sie wusste nicht, ob er gerührt oder gekränkt war. Oder gar beides. »Water’s Edge ist unser aller Zuhause, Dad.«
Sie wartete auf eine Antwort, auf irgendeine Reaktion von ihm, aber er stand einfach nur da. Zum tausendsten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, ihn besser zu kennen. »Zumindest kann ich Hilfe beisteuern, mich zum Beispiel um die Finanzen kümmern und die Rechnungen bezahlen. Ich könnte mich auch um die Mitarbeiter kümmern. Ich kenne niemanden, der so katastrophale Personalentscheidungen trifft wie Vivi Ann. Dieser Travis Kitt ist doch ein Witz … und die Leute in der Stadt reden schon darüber, wie dumm es war, ihn einzustellen.«
»Ach, das sagen sie also?«
Winona nickte. »Was das Geld betrifft –«
Er sah sie hart an; in seinem Blick lag etwas Finsteres, was alles Mögliche bedeuten konnte – Groll, Traurigkeit, Zorn. Sie wusste es nicht, sie hatte seine Miene nie deuten können. Eigentlich wäre es Aufgabe ihrer Mutter gewesen, das Verhalten ihres Vaters zu erklären und in einen Kontext zu setzen. Doch ohne sie waren sie alle ins kalte Wasser geworfen worden, und Winona hatte es am schlimmsten getroffen. Bevor sie sich wappnen konnte, zog sich ihr vor Beklemmung der Magen zusammen. Sie konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, dass es falsch gewesen war, ihm Geld anzubieten.
»Ich nehme kein Geld von meiner Tochter an.«
»Aber –«
»Du kannst mit Luke reden. Wir dürfen die Bullen auf seinem Land halten. Frag, was er dafür haben will. Und stell jemanden ein, der was von Pferden versteht und nicht sofort wieder verschwindet.«
Noch bevor sie etwas darauf antworten konnte, ging er einfach weg und ließ sie stehen.
Er hatte ihr nicht mal für ihr Angebot gedankt.
An einem kalten grauen Tag eine Woche später setzte sich Winona ans Kopfende des Esszimmertischs, an den Platz, der früher ihrer Mutter gehört hatte. Aurora setzte sich an die linke Tischseite und Vivi Ann an die rechte.
Ihr Vater saß bereits am anderen Ende. Sein Gesicht war noch staubverschmiert von der Arbeit, und sein Haar klebte ihm wegen des Huts, der jetzt an einem Haken an der Haustür hing, feucht und platt an der Stirn. Nur Winona, die ständig nach geringsten Veränderungen oder Emotionen im Gesicht ihres Vaters suchte, bemerkte, wie durchdringend sein Blick war. Sie war nicht sicher, ob Vivi Anns Plan ihn wirklich überzeugt hatte; aber nun, da er sich entschieden und dies auch verlautbart hatte, würde er keinen Rückzieher mehr machen. Winona blieb nichts anderes übrig, als ihn und das Land zu schützen, so gut sie konnte.
»Okay«, sagte sie. »Ich habe die Kreditunterlagen und die Finanzen geprüft. Die gute Nachricht ist, dass das Ganze weniger kostet als ursprünglich angenommen. Insgesamt sollte ein Darlehen von fünfzigtausend reichen.« Sie schob ihrem Vater die Unterlagen zu. »Das Land hier ist die Sicherheit für den Kredit. Wenn die monatlichen Rückzahlungen nicht pünktlich geleistet werden, behält sich die Bank das Recht vor, vorzeitig den Kredit zu kündigen und die Gesamtrückzahlung zu fordern. Sollte die nicht erfolgen, droht die
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