Das Geheimnis der Schwestern
nach Luke um. Als sie sich vergewissert hatte, dass er nicht in der Arena war, ging sie zum Farmhaus, trat ein und rief laut: »Hey, Dad.«
»Ich bin im Arbeitszimmer«, antwortete Luke.
Lächelnd ging sie zu ihm.
»Hallo«, sagte er und stand sofort auf. »Du hast deinen Dad knapp verpasst.«
Sie lächelte strahlend. Gott sei Dank. »Nicht so schlimm. Ich wollte die Rechnungen abholen.«
»Zum Arbeiten ist es doch viel zu spät«, meinte Luke. »Außerdem ist Samstagabend. Was würdest du zu einem Bier sagen?«
»Wollen wir ins Outlaw?«
»Ich hab Vivi Ann gesagt, ich würde warten, bis sie fertig ist. Könnten wir uns daher lieber auf die Veranda setzen?«
»Natürlich«, sagte sie und zwang sich weiterzulächeln.
Sie holte das Bier und einen wärmeren Mantel und folgte ihm hinaus. Die Luft an diesem Spätfrühlingsabend war kühl, nicht kalt, und frisch. Unten schlug die steigende Flut gegen die Uferbegrenzung und spritzte auf das feuchte Gras. Auf dem verwitterten weißen Geländer erinnerte sie eine Sammlung Muscheln an die vielen Uferspaziergänge, die sie als Kinder unternommen hatten.
Jetzt setzten sie sich nebeneinander und plauderten unbeschwert, wie nur alte Freunde es können. Luke erzählte ihr, dass er an diesem Tag bei der Geburt eines Fohlens geholfen hatte und eine Wunde hatte nähen müssen. Sie revanchierte sich mit der witzigen Geschichte über einen Klienten, der einen jungen Wolf für seinen Sohn kaufen wollte und nicht begriff, wieso ein Tier aus der Gegend als exotisch angesehen wurde und daher nicht in Wohnungen gehalten werden durfte.
Je länger sie sich unterhielten, desto mehr löste sich Winonas innere Anspannung. Wenn sie mit Luke zusammen war, fiel es ihr leichter, an eine gemeinsame Zukunft mit ihm zu glauben. Selbst ihr Groll gegenüber Vivi Ann nahm auf ein vertretbares Maß ab. In Lukes Gegenwart fühlte sie sich wie ein Stück Butter, das langsam seine Form verlor. »Du hast gesagt, du wärest wieder zurückgekommen, weil du unruhig gewesen wärest«, sagte Winona mit leichtem Zögern. Sie wollte nicht aufdringlich erscheinen, sehnte sich aber danach, alles über ihn zu erfahren. »Wonach suchst du denn?«
Er zuckte mit den Schultern. »Meine Schwester hält mich für zu romantisch. Sie meint, das würde noch mal mein Untergang sein. Ich weiß nicht. Ich wollte nur was anderes. Mein ganzes Leben habe ich Geschichten darüber gehört, wie mein Dad dieses Land hier fand und mit eigenen Händen urbar gemacht hat. Ich wollte auch so etwas tun.«
»An deinen Dad kann ich mich kaum noch erinnern«, sagte Winona. »Ich weiß nur noch, dass er riesig war und eine Stimme wie ein Grizzlybär hatte. Wenn er rief, hatte ich immer Angst.«
Luke lehnte sich zurück. »Hab ich dir je erzählt, dass ich nicht mehr reden wollte, als er starb?«
»Nein.«
»Ein Jahr hab ich nicht mehr gesprochen. Das war im dritten Schuljahr. Ich weiß, dass alle besorgt waren – meine Mom hat mich ständig zum Arzt geschleift, damit er irgendwelche Tests an mir vornehmen konnte, und sie hat die ganze Zeit geweint – aber ich fand meine Stimme einfach nicht mehr.«
»Und dann?«
»Ich schätze, ich bin drüber hinweggekommen. Eines Tages blickte ich meine Mom über den Esstisch hinweg an und sagte: ›Gibst du mir mal bitte die Tomaten?‹«
Sie schaute ihn an und erinnerte sich, wie sehr der Verlust eines Elternteils schmerzen konnte. Ihr tat es leid um den kleinen Jungen, der er gewesen war, und am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und ihn berührt; vielleicht auch gesagt, wie ähnlich sie sich seien. Stattdessen wandte sie den Kopf ab, damit er nicht die Sehnsucht in ihrem Blick sah. »Was hat Vivi Ann gesagt, als du ihr von deinem Dad erzählt hast?«
»Ach, Vivi und ich reden nicht über solche Dinge.«
»Warum nicht?«
»Du weißt doch, wie sie ist. Sie will einfach nur Spaß haben. Das liebe ich auch so an ihr. Es gibt schon genug ernste Menschen.«
Winona fühlte sich zurückgesetzt, auch wenn er das nicht beabsichtigt hatte. Hier saß sie, direkt neben ihm, und hörte sich seine Geheimnisse an. Und nicht mal jetzt sah er sie wirklich.
Männer interessierten sich nur für das Aussehen einer Frau. Es war ihr Fehler, dass sie mehr von ihm erwartet hatte.
»Darf ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte er.
Die Ironie des Ganzen war ihr nur zu deutlich bewusst. Trotzdem lächelte sie nicht. »Natürlich. Geheimnisse sind bei einem Anwalt gut aufgehoben.«
Er griff in seine
Weitere Kostenlose Bücher