Das Geheimnis der Schwestern
Sommers war trügerisch, doch keinen kümmerte es. Ein paar sonnige Tage im Mai trösteten über einen verregneten Juni hinweg.
Ein paar Tage lang bemühte sich Vivi Ann nach Kräften, Dallas Raintree zu ignorieren. Sie stand früher als üblich auf und machte Frühstück für sie drei, doch wenn Dallas kam, sorgte sie dafür, dass sie nicht da war. Jeden Morgen hinterließ sie eine Liste mit Aufgaben für ihn auf dem Küchentisch – denen ihr Dad noch einige hinzufügte –, und zum Abendessen (das sie ebenfalls mied) waren diese Pflichten immer erledigt. Selbst ihr Vater, der andere ziemlich kritisch beurteilte, musste zugeben, dass Dallas »sich auf einer Ranch ganz gut auskannte«. Am Ende der Woche interessierte sich wundersamerweise kein Mensch mehr für Vivi Anns Entgleisung in der Bar. Die Flut ihrer Hochzeitspläne hatte alles weggespült.
Natürlich tratschten die Leute weiter und zeigten mit dem Finger auf Dallas, wenn er die Outlaw Tavern oder den Futtermittelladen betrat, doch das war jetzt unwichtig. Henry Grey hatte ihn als neuen Arbeiter auf seiner Ranch akzeptiert, und das setzte jeder Diskussion ein Ende. Wenn man ihn fragte, sagte er nur: »Ich muss zugeben, der Kerl macht sich gar nicht so schlecht auf der Ranch«, und damit hatte es sich.
Vivi Ann wünschte sich, sie könnte das alles auch so schnell vergessen.
Jetzt, an diesem strahlenden Nachmittag, stand er in der Tür des Reitstalls und fegte Staub, Erde und Strohreste hinaus in die Sonne.
Es war zu spät, so zu tun, als hätte sie ihn nicht gesehen, daher lächelte sie – oder fletschte eher die Zähne – und ging zu ihm.
»Könntest du zum Futtermittelhändler fahren und Psyllium holen? Wir haben keins mehr. Chuck weiß, was wir normalerweise nehmen, und wird es auf die Rechnung setzen. Brauchst du meinen Wagen?«
»Hab selbst einen.«
»Gut«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
Er lächelte.
Sie zögerte einen Moment und zwang sich dann zu gehen. Sie meinte, ihn leise lachen zu hören, wollte sich aber auf keinen Fall umdrehen.
In diesem Moment kam ein großer, schwarzer SUV herangefahren und parkte auf dem Platz vor dem Stall. Sechs Mädchen drängten aufgeregt plappernd und lachend heraus. Mackenzie John kam zu Vivi Ann gerannt. »Sind wir zu spät?«
»Nein. Sattelt schon mal die Pferde. Wir treffen uns in der Arena.«
Die Mädchen stürzten davon.
Vivi Ann hörte, wie hinter ihr die Wagentür aufging und wieder zuschlug, und wusste, was das bedeutete.
Julie John stellte sich zu ihr und stieß sie freundschaftlich mit der Hüfte an. Sie war eine große, attraktive Frau mit stachlig kurzen blonden Haaren, die immer lächelte. »Wo ist er?«
»Wer?«
»Christian Slater. Was meinst du denn? Er. «
Vivi Ann wusste, es war zwecklos, Ahnungslosigkeit vorzutäuschen, daher wies sie kaum merklich mit dem Kinn in seine Richtung.
Dallas war jetzt am Offenstall und fegte Sägespäne in eine rostige Schubkarre.
»Wow«, sagte Julie, verstummte – seufzte vielleicht sogar – und sagte dann: »Sei bloß vorsichtig, Vivi.«
»Das höre ich nicht zum ersten Mal.«
»Tja, ich an deiner Stelle würde mich daran halten. Die ganze Stadt spricht von deiner Verlobung. Eigentlich dachten alle, du würdest niemals heiraten, und Luke ist ein großartiger Kerl.«
»Das musst du mir nicht sagen.«
»Ach, nicht? Ich weiß aber, dass du eine Schwäche für Außenseiter hast. Erinnerst du dich noch, als du in der zehnten Klasse Feuer und Flamme für diesen Austauschschüler warst? Den, der beim Eröffnungsspiel getrunken hat? Wie hieß er noch?«
Vivi Ann löste sich von ihr.
»Sei bloß vorsichtig. Mehr sage ich ja nicht.«
»Das werde ich. Danke.« Vivi Ann ließ Julie allein auf dem Parkplatz zurück. Als sie zum Reitstall ging, spürte sie die Blicke beider – Julies und Dallas’ – auf sich, aber sie sah keinen von ihnen an, sondern marschierte zielstrebig in die Arena und fing mit dem Unterricht an.
»Deine Haltung ist sehr schön, Mackenzie«, sagte sie. »Aber lass die Fersen unten, ja? Und Emily, heute werden wir am Zügelwechsel fürs Turnier üben. Daher möchte ich, dass du deine Stute versammelst. Weißt du noch, wie das geht? Zuerst drückst du dich tief in den Sattel … Gut. Jetzt ziehst du an den Zügeln, damit ihr Kopf zurückgeht.«
Den ganzen Tag gab sie Unterricht und konnte durch die ununterbrochene Aktivität ihre Konzentration halten. Als die letzte Stunde beendet war, rieb sie sich den
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