Das Geheimnis der Schwestern
»Beeil dich.«
Schuldbewusst, doch außerstande, sich zu beherrschen, stürzte Vivi Ann aus der Bar. Der Parkplatz war leer.
Er hatte nicht auf sie gewartet.
Sie rannte über die Straße, und da sah sie ihn. Er stand an der Ecke bei Myrtle’s Ice Cream Shop. Er neigte kurz seinen Kopf zur Seite, als lausche er auf etwas, dann ging er in die dunkle Gasse neben der Eisdiele.
»Bleib hier, Vivi«, sagte sie laut zu sich. »Sonst bekommst du Ärger.« Doch als er sich in Bewegung setzte, folgte sie ihm, hielt sich aber weit genug entfernt, dass er sie nicht hören konnte. Die Gasse war einer der wenigen Orte der Stadt, wo Vivi Ann noch nie gewesen war, nicht mal als Kind. Sie war dunkel, schmal, und überall lag Müll: Bierdosen, leere Schnapsflaschen, Zigarettenkippen. Als sie am Ende angelangt war, blieb sie stehen und spähte um die Ecke.
Auf einer Landzunge, die sich mit reiner Willenskraft ans Ufer zu klammern schien, stand Cat Morgans baufälliger Bungalow. Das Grundstück war genauso heruntergekommen wie das Haus. Mehrere Fenster waren zerbrochen und mit Klebeband geflickt, und die Haustür hing schief in den Angeln. Moos bedeckte das Dach und gab dem Kamin eine atommüll-giftgrüne Farbe. Im Laufe der Jahre hatte Vivi Ann eine Menge schockierender Geschichten über die Vorgänge in diesem Haus gehört.
Musik dröhnte heraus, ein aggressiver Heavy-Metal-Song, den Vivi Ann nicht kannte. Durch die schmutzigen Fenster sah sie Leute tanzen.
Dallas ging zur Haustür und klopfte.
Die Tür schwang auf, und Cat Morgan trat heraus. Sie trug ein schwarzes Trägertop aus Samt, das ihren großen Busen betonte, und enge schwarze Jeans, die sie in silberne Cowboystiefel gesteckt hatte. Ihre kupferfarbenen Locken umrahmten ihr stark geschminktes Gesicht, und an ihrem Handgelenk klimperten mindestens ein Dutzend silberner Armreifen.
»Hey«, sagte Dallas.
Cat antwortete etwas für Vivi Unverständliches und winkte ihn dann herein. Die Fliegentür knallte hinter ihnen zu.
Eine Weile stand Vivi Ann noch da und wartete. Als sie merkte, dass Dallas nicht wieder herauskam, ging sie in den hübscheren Teil der Stadt zurück. Nicht mal drei Minuten später war sie wieder im Outlaw und saß Luke und Winona gegenüber.
In Sicherheit. Wie immer.
»Ich wollte eigentlich über unsere Hochzeit sprechen«, sagte Luke. »Aber jetzt sind wir zu dritt. Ist das ein guter Zeitpunkt?«
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Natürlich, Luke. Sprechen wir darüber.«
»Ich sag dir, da stimmt was nicht, Aurora.«
»Ach, was du nicht sagst! Weißt du, was nicht stimmt, Win? Du bist eine Idiotin. Trotz deines Superhirns begreifst du einfach nicht, was sich vor deinen Augen abspielt, und jetzt bist du am Boden zerstört. Deine kleine Schwester ist mit deiner großen Liebe verlobt.«
»Ich hab nie gesagt, dass ich ihn liebe.«
»Und ich habe nie gesagt, dass mein Mann langweilig ist, aber du wusstest es, genau wie ich jetzt das mit Luke weiß.«
Winona lehnte sich zurück und stieß sich ab. Sie saßen in der Hollywoodschaukel am Haus ihrer Schwester. Bei der Bewegung quietschten die alten Ketten. »Sie liebt ihn nicht, Aurora.«
»Und, was willst du machen?«
»Was kann ich schon machen? Es ist vorbei.«
»Nun sei nicht so fatalistisch! Du musst Vivi Ann nur die Wahrheit sagen. Dann wird sie alles regeln. Sie wird ihn nicht heiraten. Das garantiere ich dir.«
Winona starrte auf den schattigen Garten ihrer Schwester. Es war zehn Uhr abends, mitten in der Woche, und in den meisten Häusern der Nachbarschaft war es schon dunkel. Im Frühling ging man in Oyster Shores früh schlafen. »Ich muss also einfach zugeben, dass ich einen Mann liebe, für den ich nur eine gute Anwältin und Freundin bin, und meiner schönen kleinen Schwester sagen, mein Glück sei wichtiger als ihres, und außerdem – nur um der ganzen Demütigung noch eins draufzusetzen – Dad wissen lassen, dass wir Lukes Land nicht durch die Heirat bekommen, weil die erbärmliche Winona sich dem in den Weg gestellt hat.«
»Herrgott, wenn du es so ausdrückst …«
»Wie denn sonst! Vielleicht hätte ich ganz am Anfang noch was sagen können. Ich gebe zu, das war mein Fehler, aber jetzt ist es zu spät. Ich muss es einfach schlucken.«
»Könntest du vielleicht auch versuchen, dich nicht ganz so mies zu benehmen? Ich meine, während du es schluckst?«
»Ich war nicht mies.«
»Ach nicht? Trayna hat erzählt, du hättest ihr neulich erst den Kopf abgerissen. Und
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