Das Geheimnis der Schwestern
Ann das aus lauter Verzweiflung behauptet hatte? Dass sie sich selbst ins Verderben ritt, nur um sie nicht zu enttäuschen?
»Gar nicht erst darüber nachdenken«, murmelte sie. Irgendwie musste sie es schaffen, sich nicht darüber aufzuregen. Aurora hatte recht, das hatte Winona immer gewusst. Schwestern waren wichtiger als Männer. Sie musste einfach aufhören, sich nach Luke zu verzehren, sonst würde sie alles kaputtmachen. Aber wie sollte sie das schaffen? Alle Vernunftsgründe dieser Erde hatten nichts bewirkt. Groll war in ihrem Innern aufgekeimt, und selbst jetzt spürte sie, wie er Wurzeln trieb.
Stunden nachdem der Jackpot geendet hatte, saß Vivi Ann auf der Absperrung der Arena und starrte auf den Lehmboden. Die letzten vierundzwanzig Stunden zählten zu den schlimmsten ihres Lebens. Wie ein Lauffeuer hatte sich der Tratsch über ihr unmögliches Verhalten am Vorabend in der Stadt verbreitet. Die Ankündigung ihrer Verlobung mit Luke hatte das Schlimmste verhindert, aber trotzdem bemerkte sie, dass die Leute sie prüfend anstarrten und flüsterten, wenn sie an ihnen vorbeiging.
»Hey.«
Sie sah nach links.
Dallas stand in der offenen Tür der Arena: ein langgestreckter Schatten im orangefarbenen Abendlicht. Im Getriebe dieses Tages hatte sie ihn fast vergessen. Fast.
»Wie lange stehst du schon da?«
»Lange genug.«
Sie rutschte vom Geländer und ging auf ihn zu.
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du keine Ahnung hast, wie man einen Jackpot veranstaltet?«
Sie seufzte. Das mussten mittlerweile wohl alle mitbekommen haben. »Hast du was zu essen bekommen?«
»Ja.« Er schob seinen Hut gerade so weit nach oben, dass sie seine Augen sehen konnte. Sie waren grau wie der Sund im Winter. Unergründlich. »Also, wer wird mich feuern? Du oder Daddy?«
Es war erst einen Tag her, und doch hatte sie das Gerede über den Kuss schon satt. »Wir haben 1992, Dallas, nicht 1892. Ich stecke in Schwierigkeiten, nicht du.«
»Ich habe deinem makellosen Ruf geschadet?«
»So in etwa. Eigentlich dachte ich, nach dem Fiasko in der Bar würdest du alles hinschmeißen.«
»Sehe ich so aus?« Er trat auf sie zu. »Oder hast du vielleicht gedacht, Indianer seien arbeitsscheu? Hatten deine Freunde vielleicht deshalb was dagegen, dass ich dich küsse?«
»Hier kümmert es niemanden, dass du Indi… Ureinwohner Amerikas bist. Es ging um mich. Himmel noch mal, ich war Austernkönigin. Viermal sogar. Und mein Freund ist allseits beliebt. Du hättest auch Ärger bekommen, wenn du so weiß wärst wie Dracula.«
»Austernkönigin?« Lächelnd trat er noch näher zu ihr. »Dann hast du wohl gewisse Talente wie Fackelschwingen oder Evergreens singen?«
»Nein, was ich habe, ist ein Freund. Ein Verlobter«, korrigierte sie sich und reckte ihr Kinn. »Hast du das verstanden?«
»Weiß denn dieser Verlobte«, flüsterte Dallas, »dass du meinen Kuss erwidert hast?«
Vivi Ann drängte sich an ihm vorbei und sagte im Gehen: »Morgen ist Sonntag. Ich nehme nicht an, dass du zur Kirche gehst, aber wir gehen, daher gibt es kein Frühstück. Sonntags füttere ich die Pferde, das einzige Mal in der Woche. Komm um Punkt vier Uhr zum Haus, sonst werfe ich dein Essen ins Klo.«
Als sie ins Haus kam, wartete schon ihr Vater auf sie. »Na wunderbar«, murmelte sie, zog die Stiefel aus und stellte sie neben die Tür. Sie hatte nicht die geringste Lust, mit ihm zu reden. Worum sollte es schon gehen? Um das Gerede über den Abend zuvor? Ihre Verlobung? Das vermasselte Roping? Dallas?
»Ich gehe ins Bett, Dad. Wir reden morgen«, erklärte sie und ging, ohne aufzublicken, zur Treppe. Sie hatte schon die Hälfte zurückgelegt, da hörte sie ihn sagen: »Halt dich von diesem Indianer fern.«
Ohne ein Wort ging sie weiter. Als sie sich im Bad umzog und die Zähne putzte, hörte sie noch mal seine Ermahnung.
Halt dich von diesem Indianer fern.
Sie nahm den Unterton in seiner Stimme wahr, das Vorurteil, die Abneigung, und zum ersten Mal im Leben schämte sie sich für ihn.
Trotzdem wusste sie, dass es ein guter Rat war.
Sechs
Der Mai brachte viel Sonnenschein zum Hood Canal. In der gesamten Küstenregion wurde alles für den Sommer vorbereitet. Markisen wurden entrollt, gereinigt und montiert, Grillgeräte repariert, und Fahrten zur Gärtnerei wurden fast so häufig wie zum Supermarkt. Von einem Tag auf den anderen füllten sich die Kästen auf Veranden und Terrassen mit bunten Blumen. Jeder wusste, dieser Vorbote des kommenden
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