Das Geheimnis der Schwestern
größten Schlaglöcher herum, bis sie zu einer Lichtung mit einem hübschen, kleinen Blockhaus, einem Stall mit vier Boxen und einer kleinen eingezäunten Weide gelangte. Dort hielt sie an. »Die Leute vom Tierschutz haben diesen Wallach in einem entsetzlichen Zustand vorgefunden und ihn hierhergebracht. Ich hoffe nur, dass die Leute, die ihm das angetan haben, im Gefängnis sitzen. Whitney Williams – der das hier gehört – ist zwar arbeiten, aber sie weiß, dass wir kommen.« Sie nahm sich eine Longe aus dem Truck und ging zum Stall. »Warte hier.«
Im Stall war es dunkel und staubig. An der Tür der letzten Box blieb sie stehen. Das schwarze Pferd war in der Dunkelheit kaum zu erkennen; sie sah nur seine gebleckten gelben Zähne und das Weiße seiner Augen. Es hatte die Ohren angelegt, schnaubte und verspritzte dabei Schnodder.
»Ganz ruhig, mein Alter«, sagte Vivi Ann, öffnete die Tür und ging vorsichtig einen Schritt vor. Das Pferd stieg und trat mit den Vorderhufen nach ihr.
Sie wich ihm geschickt aus und klinkte die Longe an seinem Halfter fest, als seine Hufe gegen die Holztür knallten.
Sie brauchte eine Viertelstunde, um das verängstigte Pferd aus dem dunklen muffigen Stall ins Freie zu bringen; dort, im Sonnenlicht, sah sie die Narben.
Überall wo die Peitsche oder das Messer zu tief eingeschnitten hatte, wuchs das Fell weiß nach.
»Verflucht noch mal«, murmelte Dallas neben ihr.
Vivi Ann spürte, wie ihr die Tränen kamen, wischte sich aber rasch über die Augen, bevor Dallas ihre Schwäche mitbekam. Ganz gleich, wie oft sie so etwas schon gesehen hatte, sie würde sich nie an den Anblick misshandelter Pferde gewöhnen. Sie dachte an Clementine, wie das Pferd sie gerettet hatte, als sie es am nötigsten brauchte. Und die Vorstellung, wie grausam Menschen sein konnten, brach ihr das Herz. Sie versuchte, dem Pferd über die samtigen Nüstern zu streichen, aber es scheute mit wild rollenden Augen. »Verladen wir ihn und fahren los.«
»Warum tust du das eigentlich, wenn es dich so aufregt?«, fragte Dallas später auf dem Rückweg.
»Soll ich sie etwa leiden lassen, weil es mir zu viel ausmacht, ihnen zu helfen?«
»Da wärst du nicht die Erste.«
»Dieses Pferd hier – es heißt übrigens Renegade – war noch vor vier Jahren der Gewinner des Western-Pleasure-Turniers. Ich hab ihn an jenem Tag siegen sehen. Er war einfach umwerfend. Und jetzt heißt es, man könnte ihn nicht mehr reiten. Sie wollten ihn töten lassen, bevor er noch jemanden verletzt. Als wäre er ohne Grund aggressiv.«
»Schmerzen können Lebewesen gemein machen.«
»Du klingst, als würdest du dich damit auskennen.«
Er senkte die Stimme. »Er könnte dich verletzen.«
»Ich kann auf mich aufpassen.«
»Wirklich?«
Seltsamerweise hatte Vivi Ann plötzlich das Gefühl, dass sie nicht mehr von dem Pferd redeten.
Sie konzentrierte sich auf die Straße und sagte nichts mehr, bis sie wieder zu Hause waren, auf dem Wendeplatz geparkt hatten und Renegade aus dem Anhänger luden. »Abendessen gibt es etwas später«, verkündete sie und ließ das Pferd auf der Koppel hinter dem Reitstall grasen. Sie wusste aus Erfahrung, dass Pferde wie Renegade allein sein mussten. Manchmal waren sie so verstört, dass sie nie wieder mit der Herde laufen konnten.
Dallas trat zu ihr. »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich gehe mit Cat Morgan essen.«
»Ach. Tja dann.« Sie trat einen Schritt zurück und versuchte, ihre Enttäuschung zu verdrängen. »Ich geh dann wohl besser mal rein.« Aber sie rührte sich nicht. Sie wusste nicht mal, warum, bis er die Distanz zwischen ihnen überwand.
Einen Augenblick dachte sie, er würde sie küssen, und wider besseres Wissen sehnte sie sich danach, aber dann flüsterte er ihr nur ins Ohr: »Wir wissen doch beide, dass ich nicht Cat will.«
Sieben
Nach dem Essen im Waves Restaurant fuhren Vivi Ann und Luke zum Farmhaus zurück. Die Geräusche einer Juninacht umgaben sie, drangen durchs offene Wagenfenster: Motorboote, die nach einem Tag auf dem glatten Kanalwasser wieder an die Slipanlagen tuckerten, lachende Kinder auf den Uferwiesen, bellende Hunde. Im Ort ging es so betriebsam zu, dass man das Schweigen im Wagen leicht hätte überhören können, aber Vivi Ann bemerkte jede Gesprächspause, jeden Atemzug. In den Wochen, seit sie und Dallas Renegade geholt hatten, hatte sie das Gefühl, ihr Leben hinge an einem Faden, von irgendwoher drohe Gefahr und sie müsse vorsichtig sein,
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