Das Geheimnis der Schwestern
fragte Vivi Ann. »Bist du dabei?«
»Das soll wohl ein Witz sein. Ich bin todmüde.«
Vivi Ann stützte die Hände auf, lehnte sich zurück und blickte an dem Verandadach vorbei zum Nachthimmel. Auf dem Hügel hinter dem Reitstall blinkte ein Licht auf, wie ein kleines, leuchtendes Glühwürmchen mitten in der Dunkelheit.
Ich will dich … Und du willst mich.
Sie wandte sich zu Aurora, die die winzigen Absplitterungen auf ihrem scharlachroten Nagellack begutachtete. »Woher hast du gewusst, dass Richard der Richtige für dich ist, Aurora?«
Aurora drehte den Kopf, um sie anzusehen. Ihr Gesicht war in dem orangefarbenen Licht der Verandalampe eine Maske aus Licht und Schatten.
»Weil er gefragt hat.«
»Das war alles? Weil er gefragt hat, ob du ihn heiraten willst?«
»Nein, weil er mir immer wieder Fragen stellte wie: Hast du es auch warm genug? Wie hat dir der Film gefallen? Wohin möchtest du essen gehen? Richard ist … freundlich. Wie Luke.« Aurora reckte kaum merklich ihr Kinn, als wollte sie auch Vivi Ann etwas fragen. »Ich bin vorher mit etlichen Typen ausgegangen, die nicht so nett waren. Du erinnerst dich doch noch an Dylan und Mike. Als Richard auftauchte, hatte ich es jedenfalls satt, immer verletzt zu werden.«
»Warum gibst du es nicht einfach zu, Vivi?«, schaltete Winona sich ein. »Du weißt nicht, ob du Luke liebst.«
»Wenn sie ihn liebt, weiß sie es«, erklärte Aurora. »Und wenn sie ihn nicht liebt, weiß sie es auch. Eigentlich fragt sie sich doch, ob sie sesshaft werden sollte.«
»Sesshaft werden?«, gab Winona scharf zurück. »Das ist doch lächerlich. Wir sprechen hier über Luke Connelly.«
Aurora sah Winona an. »Du bist ihre Schwester«, sagte sie. »Vergiss das nicht, Win.«
»Wie könnte ich?«, murmelte Winona. »Ihr beide erinnert mich ja oft genug daran.«
»Seit Moms Tod haben wir drei zusammengehalten«, sagte Aurora und schaute Winona unverwandt an. »Pea, Bean und Sprout. Wir können wütend aufeinander sein, uns streiten, anschreien und weinen – das ist ganz normal unter Geschwistern. Aber wir halten zusammen. Und jetzt stellt Vivi Ann uns gerade ein paar heikle Fragen. Vielleicht hätte einiges schon vor Monaten ausgesprochen werden sollen, aber so war es nicht, und jetzt müssen wir damit leben. Verstehst du? Wir müssen damit leben.« Sie wandte sich zu Vivi Ann und sah ihr in die Augen. »Die Wahrheit ist, Vivi: Es gibt Schlimmeres, als einen anständigen Mann zu heiraten und zu hoffen, damit zufrieden zu werden.«
»Und was ist mit Leidenschaft?«, fragte Vivi Ann leise.
»Die vergeht«, erwiderte Aurora. Sie versuchte zu lächeln, aber es wirkte gezwungen, und ihre Augen sagten etwas ganz anderes.
Zum ersten Mal fragte Vivi Ann sich, ob Auroras raffiniertes Make-up nur eine Maske war, um zu verbergen, dass sie in einer langweiligen Ehe unglücklich war. »Aber es gibt auch Besseres als Leidenschaft. Das willst du doch sagen, oder?« Doch noch während sie diese Frage stellte, wanderte ihr Blick unwillkürlich zu dem gelben Lichtpunkt auf dem Hügel.
»Bist du sicher, dass du Luke heiraten willst?«, fragte Winona. »Denn wenn nicht, ist das auch okay. Du kannst es ruhig zugeben.«
Vivi Ann zwang sich zu lächeln. Wie sollte sie etwas zugeben, was sie nicht wusste? Es war Wahnsinn, sich so nach Dallas zu verzehren. Das konnte auf keinen Fall Bestand haben. Sie musste einfach aufhören, an ihn zu denken. »Ich hab nur kalte Füße bekommen. Schließlich ist die Ehe eine große Sache.«
Winona starrte sie so konzentriert an wie ein Jagdhund auf der Pirsch. Sie wirkte nicht überzeugt. Hatte sie gesehen, wie Vivi Ann verstohlen zum Cottage blickte?
»Das ist doch ganz natürlich«, meinte Aurora und lenkte das Gespräch wieder in sichere Bahnen.
»Wie auch immer: Ich bin fix und fertig«, verkündete Vivi Ann. »Danke, dass ihr mir heute geholfen habt.« Sie umarmte ihre Schwestern, dann brachte sie sie zum Wagen und sah zu, wie sie davonfuhren. Als sie fort waren, ging sie ins Haus. Von ihrem Schlafzimmerfenster aus blickte sie auf das kleine gelbe Licht zwischen den Bäumen. Er war da oben und wartete.
»Nur gehe ich nicht hin«, sagte sie und machte sich bettfertig.
Acht
Den restlichen Juni stand Vivi Ann bei Morgengrauen auf, machte Frühstück für drei und ging dann. Jeden Morgen murmelte sie gegenüber ihrem Vater eine Entschuldigung, warum sie nicht zum Frühstück blieb. Sie richtete all ihre Aufmerksamkeit auf die Führung der
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