Das Geheimnis der Schwestern
die Ranch, die ihr mit einem Mal fremd vorkam. Jetzt hätte sie aufstehen, sich für den großartigen Sex bedanken und wieder in ihr Elternhaus gehen müssen. Doch selbst als sie schon einen schroffen, endgültigen Abschiedsgruß formulierte, ging ihr nicht aus dem Kopf, wie sanft seine Zunge sich auf ihrem Körper angefühlt hatte und sie vor Lust hatte aufschreien lassen.
»Ich sollte besser gehen«, sagte sie schließlich.
Er saß einfach nur da und starrte auf die Weiden. »Zieh den Bademantel aus, Vivi.«
Sie erschauerte, als sie das hörte. Ein winziger Teil in ihr (die alte Vivi Ann, die in dieser einen Nacht fast verschwunden war) wollte sich weigern. Sie musste gehen und ihr altes Leben weiterleben. Wenn der Morgen anbrach, würde man ihr Fehlen bemerken. »Wir haben doch gesagt, nur einmal«, flüsterte sie und hörte selbst, wie wenig überzeugend, wie halbherzig es klang.
»Du hast das gesagt. Nicht ich.«
Dann war er auf den Beinen, stand direkt vor ihr und löste ihren Gürtel.
»Das ist doch verrückt«, sagte sie und spürte, wie der Bademantel zu Boden glitt.
»Verrückt«, murmelte er, küsste ihren Hals, ihre schwellenden Brüste, die Mulde dazwischen.
»Nur noch einmal«, sagte sie und schloss die Augen.
Das Letzte, was sie hörte, bevor er sie küsste, war sein Lachen.
Als Vivi Ann am nächsten Morgen, wund von der leidenschaftlichen Nacht, in ihrem eigenen Bett aufwachte, wusste sie, dass alles anders war. Schon immer hatte sie so getan, als führte sie ein wildes Leben, dabei war es sicher und behütet gewesen. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit ein Pferd zu reiten war gar nichts, war einfach; sie musste nur die Zügel zurückreißen, und das Pferd würde langsamer werden und stehen bleiben.
Jetzt aber konnte sie nicht die Zügel zurückziehen und Dallas bremsen. Sie kannte ihn zwar nicht gut – eigentlich überhaupt nicht –, aber eines wusste sie, für sie beide gab es nur zwei Möglichkeiten: rennen oder stoppen.
Und sie musste stoppen.
Sie stand auf und zog sich für die Kirche an. Als sie ihr Haar mit einem weißen Schmuckgummi zurückgebunden und ihr knöchellanges Jeanskleid angezogen hatte, sah sie vollkommen normal aus.
Sie ging nach unten, stellte einen Teller mit Essen für Dallas in den Kühlschrank und machte sich auf die Suche nach ihrem Vater. Sie verließen gemeinsam das Haus und gingen zum Wagen. »Wie war das Rodeo gestern Abend?«
»Luke hat sich Sorgen um dich gemacht. Er sagte, er würde dich anrufen.«
»Wirklich? Dann habe ich das wohl überhört. Willst du nach der Kirche immer noch zu Jeff?« Etwas anderes fiel ihr nicht ein, um das Thema zu wechseln.
»Ja.«
Schweigend fuhren sie zur Kirche. Auf dem Parkplatz trafen sie sich mit Luke und dem Rest der Familie. Dann gingen sie zu ihrer üblichen Kirchenbank, wo Vivi Ann sich, eingekeilt zwischen Luke und ihrem Vater, wie in einer Falle fühlte ( Rechtschaffenheit ist der Weg zu Gott; Sünde ist die Abzweigung, die uns in die Irre führt, wenn wir nicht wachsam sind gegen ihre dunkle Versuchung); sie fühlte sich schutzlos und schuldig. Außerdem war sie sich sicher, dass Pater MacKeady jeden Moment den Finger auf sie richten und Sünderin rufen würde.
Kaum war der Gottesdienst zu Ende, schoss sie aus der Bank und flüchtete sich in den hinteren Teil der Kirche, wo Kaffee und Erfrischungen angeboten wurden. Dort mischte sie sich unter Freunde und Nachbarn und versuchte, in Gesprächen mit ihnen das laute Dröhnen der Selbstvorwürfe zu übertönen. Sie plauderte, machte alberne Witzchen, trank Kaffee und dachte die ganze Zeit: Dallas.
Nur das, seinen Namen. Wieder und wieder.
Mit jeder Minute, die verstrich, wurde der Druck in ihr größer, bis sie meinte, daran zu zerbrechen. Nur er konnte ihn ihr nehmen.
Vielleicht nur noch ein einziges Mal.
»Da bist du ja«, sagte Luke auf einmal, legte den Arm um sie und zog sie an sich.
Dann tauchten auch Winona und Aurora auf.
»Gehen wir«, schlug Aurora vor. »Ich sterbe vor Hunger.«
Gehorsam ließ sich Vivi Ann von Luke und ihren Schwestern aus der Kirche und die zwei Häuserblöcke bis zu Winonas Haus führen.
Dort gab es im Wohnzimmer Mimosas und selbstgemachte Zimtbrötchen für sie. Das ganze Haus roch nach Gewürzen und Duftkerzen. Wohin Vivi Ann auch blickte, sah sie hübsche Dekorationen, Besitz. Ging es darum im Leben: Besitz anzuhäufen und damit leere Zimmer zu füllen? Sie schlenderte zum Wintergarten und starrte hinaus in den
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