Das Geheimnis der Schwestern
Messingschloss trennte sie von einer Welt, deren Existenz ihr bis jetzt unbekannt gewesen war. »Dad? Bist du zu Hause?«
Keine Antwort.
Sie stand da, allein im Haus, und wartete.
Dann hörte sie Schritte auf der Veranda.
Der Türknauf drehte sich langsam.
Wie ein heißer Sommerwind drang er ins Haus. Sie schwankte zur Seite und stieß gegen den Esstisch. Er drückte sie an das massive Holz, presste seine Hüften an ihre und küsste sie so lange und leidenschaftlich, dass sie nicht mehr genug Luft hatte, um es ihm zu verbieten. Sie spürte, wie seine Hand an ihrem nackten Bein emporglitt und ihren Rock in der Faust zusammennahm. Dann fanden seine Finger unter ihren Slip.
Sie nestelte an den Knöpfen seiner Jeans, riss sie auf und schob sie bis zu den Knien. Ihre Hände drückten und zogen verzweifelt an seinem Körper; ihr Verlangen war so heftig, dass sie nicht still stehen konnte, und als er sie auf den Tisch schob und tief in sie eindrang, rief sie seinen Namen.
Dann war es vorbei, und sie kam zittrig und desorientiert zu sich. Da lag sie, mit hochgeschobenem Rock und heruntergelassenem Slip, auf dem Esstisch ihrer Mutter. Sie wusste, sie hätte sich schämen müssen. »Das ist doch Wahnsinn«, sagte sie leise. »Ich kann damit nicht leben. Die ständigen Lügen …«
Überraschend sanft berührte er ihr Gesicht. »Es wird nicht lange dauern, Vivi. Das wissen wir doch beide. Am Ende wirst du Ken heiraten, und niemand wird je von uns erfahren. Also komm mit, in mein Bett.«
»Ist gut.« Etwas anderes brachte sie nicht hervor. Es war die falsche Antwort – falsch, schlimm, unmoralisch –, und doch nahm sie seine Hand.
Neun
In diesem Sommer lernte Vivi Ann die Kunst des Lügens. Den gesamten Juli und August arbeitete sie lange Tage in der Arena, manchmal mit ihrem Vater, aber viel öfter allein. Sie gab Unterricht, trainierte Pferde oder koordinierte die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Reitstalls. Auf einem ihrer eigenen Barrel-Races feierte sie ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag und hörte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass jemand sie als »hochengagiert« bezeichnete.
Dallas hatte ihr eine Menge über die Führung der Ranch beigebracht. Water’s Edge bot nun mit die besten Kurse und Jackpots in der westlichen Hälfte des Staates. Regelmäßig kamen Roper-Barrel-Racer- und Cutting-Teams, um sich mit einander zu messen. Danach gingen sie nach Hause und erzähl ten ihren Freunden davon, worauf noch mehr Leute kamen.
Während des sonnigen, heißen Sommers achtete Vivi Ann darauf, ganz wie früher zu sein. Die Austernkönigin. Sie bereitete immer noch drei Mahlzeiten am Tag und servierte sie zwei Männern am Esstisch, die kaum miteinander sprachen. Zuerst hatte sie sorgfältig darauf geachtet, während des Essens keinen Augenkontakt mit Dallas herzustellen, weil sie Angst hatte, ihr Vater würde ihr sorgsam gehütetes Geheimnis entdecken, aber eigentlich schenkte ihr Vater ihr dazu nicht genügend Aufmerksamkeit.
Und das war ein Segen, denn sie war Dallas hörig; so einfach – und so kompliziert – war das. Mindestens fünfmal in der Woche ging sie mitten in der Nacht zu seinem Cottage. Wie hormongeschüttelte Teenager taumelten sie dann ins Messingbett ihrer Großmutter und liebten sich bis zum Morgengrauen.
Vielleicht liebten sie sich auch nicht. Vielleicht war es nur Sex. Das wusste sie nicht, und ehrlich gesagt interessierte es sie auch nicht. Er war wie Alkohol, Nikotin und Heroin in einem: eine Sucht, die sie nicht aufgeben konnte. Sie lernte, nur von Augenblick zu Augenblick zu leben, ständig auf der Suche nach einer Gelegenheit, mit ihm zusammen zu sein.
So wie jetzt.
Es war ein herrlicher Freitagabend Ende August: Gerade hatte das Austernfestival begonnen. Seit Wochen schon wurde alles für die Parade, den Umzug und die Wohltätigkeitsauktion vorbereitet. In den vergangenen Jahren hatte Vivi Ann knietief in Arbeit gesteckt; dieses Jahr jedoch hatte sie sich tausend Ausreden ausgedacht, bis Aurora an diesem Morgen zu ihr gekommen war, sie an der Hand genommen, zum Wagen geführt und gesagt hatte: »Es reicht.«
Daher stand Vivi Ann jetzt mit ihren Schwestern auf der Main Street und besprach die letzten Einzelheiten. Die Straße wimmelte von Menschen, die Fahnen aufhängten, Schilder aufstellten und Stände errichteten. Die Polizei fing schon an, verschiedene Straßen für die Parade abzusperren. Am anderen Ende der Main Street spielte sich die Band ein. »Test: eins,
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