Das Geheimnis der Schwestern
Garten, wo alles gezähmt und gestutzt war. Jede Pflanze war in genau die Form gebracht, die Winona sich vorgestellt hatte.
Es hätte schön sein können, und in gewisser Weise war es das auch. Es zeigte eine strenge, kontrollierte Ästhetik, die nicht im Geringsten Vivi Anns Vorstellungen von Schönheit entsprach. Genau wie der einstige Garten ihrer Mutter – durchdacht angelegt, sorgfältig gepflegt, alles gerade und in Reih und Glied.
Sie blickte zur Seite und wünschte, sie könnte von hier aus die Farm sehen, fragte sich, was er wohl jetzt machte. Im Hintergrund hörte sie ihre Schwestern reden, aber es war nur ein weißes Rauschen. Sie erinnerte sich lebhaft an jedes winzige Detail der letzten Nacht – und begehrte ihn schon wieder.
»Vivi? Hörst du überhaupt zu?« Das war Winona. Sie hatte ihre Stimme derart erhoben, dass sie schon fast schrie.
»Wir reden darüber, wo euer Hochzeitsempfang stattfinden soll«, sagte Aurora scharf.
Langsam drehte Vivi Ann sich um und sah, dass alle sie anstarrten. »Oh. Tut mir leid. Ich hab mir den Garten angesehen. Sehr hübsch, Win.«
Luke zog sie in die Arme. »Ich mach mir Sorgen um dich, Schatz.«
»Wir alle machen uns Sorgen«, bestätigte Aurora.
»Die Arbeit auf der Ranch ist einfach zu viel für sie«, sagte Winona. »Vielleicht sollten wir noch jemanden einstellen.«
Sie traten immer näher zu ihr: Aurora, die zu viel sah, runzelte die Stirn, während Winona, die zu viel wollte, wütend wirkte. Und dann noch Luke … den sie lieben wollte und sollte … aber nicht konnte. Sie vereinigten ihre Kraft, sahen sich besorgt an, und sie wusste, eigentlich hätte sie sich geborgen und getröstet fühlen müssen. Stattdessen bekam sie Platzangst. Sie wollte nur noch fliehen, wieder zum Cottage laufen und mit Dallas zusammen sein; dieses Bedürfnis jagte ihr Angst ein. Sie musste mit diesem Wahnsinn aufhören, und zwar jetzt, bevor sie lichterloh brannte. »Vielleicht sollten wir verreisen, Luke. Nur wir zwei. Um zu sehen, wie wir miteinander zurechtkommen, wenn wir vierundzwanzig Stunden am Tag zusammen sind.«
»So was nennt man Flitterwochen«, sagte er lächelnd. »Ich dachte da an Paris. Ich weiß doch, dass du unbedingt mehr von der Welt sehen willst.«
»Ach ja?«
Sie sah die Reise schon bis ins letzte Detail vor sich: Sie würden sich ein bescheidenes Hotelzimmer nehmen – vielleicht, wenn sie Glück hatten, mit Blick auf den Eiffelturm – und sich von einem Reiseführer Restaurants empfehlen lassen. Sie würden sich alle Sehenswürdigkeiten der Stadt der Liebe ansehen und plaudernd die Champs- É lysées oder das Seine-Ufer entlanggehen. Alles sehr romantisch, aber sie würden sich nicht ungeduldig die Kleider vom Leib reißen oder den ganzen Tag nackt im Bett verbringen und sich lieben. »Mir geht es wirklich nicht gut«, sagte sie und spürte Winonas durchdringenden Blick. Vivi Ann vermied es, ihre Schwestern anzusehen.
»Ich bringe dich nach Hause«, schlug Luke vor.
»Nein«, erwiderte Vivi Ann heftig, lächelte jedoch zur Entschuldigung. »Bitte.« Sie hörte den verzweifelten Unterton in ihrer Stimme, konnte aber nichts dagegen machen. Wenn sie auch nur eine Minute länger hierbliebe, würde sie explodieren. »Es ist ein schöner Tag für einen Spaziergang.«
»Lasst sie doch«, sagte Winona, zur Überraschung aller.
»Bist du sicher?«, fragte Luke Vivi Ann.
»Ja.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, gab ihm rasch einen Kuss und zog sich zurück, bevor er ihn erwidern konnte. »Wir sehen uns später.«
Sie achtete darauf, langsam zu gehen, so, als fühlte sie sich wirklich nicht ganz wohl. Sie ging gemächlich die First Street Richtung Hood Canal hinunter. Erst als sie um eine Ecke gebogen und in den Schatten eines alten Baumes getreten war, konnte sie endlich tief durchatmen.
Und da war er. Er stand vor dem Waves Restaurant und wirkte vollkommen fehl am Platze zwischen den Zwergen im Garten. Seinen staubigen weißen Cowboyhut hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass sie trotz des hellen Sonnenlichts seine Augen nicht sehen konnte. Die kühn geschwungenen schwarzen Tattoos auf seinem gebräunten Oberarm standen in scharfem Kontrast zu seinem ausgebleichten grauen Baumwoll-T-Shirt.
Vivi Ann tat so, als sähe sie ihn nicht, und ging weiter, aber als sie hinter sich seine Schritte hörte, wurde sie schneller.
Auf Water’s Edge angekommen, ging sie direkt ins Farmhaus und drückte die Tür mit einem lauten Klicken zu; das
Weitere Kostenlose Bücher