Das Geheimnis der Schwestern
das nicht einfach akzeptieren? Die Eifersucht brachte sie um und bedrohte das, was ihr am meisten am Herzen lag: ihre Familie.
Du würdest doch nichts Dummes tun? , hatte Aurora vor langer Zeit gefragt. Jetzt erinnerte sich Winona daran.
»Winona?«, hörte sie jemanden rufen.
Sie blieb atemlos auf dem Bürgersteig stehen, wischte sich über die Augen und drehte sich dann – lächelnd – um.
Myrtle Michaelian stand vor ihr und sagte: »Dein Vater pöbelt in der Eagles Hall herum. Ich glaube, jemand sollte ihn nach Hause bringen.« Dann runzelte sie die Stirn. »Ist alles in Ordnung mit dir, meine Liebe?«
Winona schluckte hart. »Natürlich, Myrtle. Was soll denn sein?« Sie wandte sich ab und marschierte zur Eagles Hall. Noch bevor sie durch die Tür in den verrauchten Saal getreten war, hörte sie schon, wie ihr Dad mit schleppender Stimme eine von seinen Vivi-ist-die-Tollste-Geschichten zum Besten gab.
»Komm jetzt, Dad«, bat sie und nahm ihn beim Arm. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Er war zu betrunken, um sich zu wehren. Sie führte ihn hinaus zu ihrem Wagen. »Du solltest dich beim Whisky etwas zurückhalten, Dad.«
»Sagt die, die alles in sich hineinstopft.«
Daraufhin schwieg Winona die ganze Fahrt bis zur Ranch. Sie half ihm bis in sein Zimmer, sah zu, wie er sich aufs Bett fallen ließ, und wartete, bis er anfing zu schnarchen.
»Gern geschehen«, sagte sie, zog ihm die Stiefel aus und deckte ihn mit einer Decke zu.
Seufzend verließ sie das Haus und ging zum Wagen zurück. Als sie am Reitstall vorbeifuhr, bemerkte sie, dass Vivi Anns Wagen im Wäldchen bei Grandpas Cottage parkte. Dallas’ Truck war auch da.
Hätte der Mond nicht so hell geschienen, dann wäre das vielleicht nicht aufgefallen. Nicht ihr und nicht sonst wem.
Winona stieg auf die Bremse. Dann saß sie nur da und starrte auf die beiden Wagen. In diesem Augenblick fügten sich kleine Puzzleteilchen in ihrer Erinnerung zusammen und ergaben ein vollständiges Bild. Ihr fiel wieder ein, dass Vivi Ann bei zahlreichen Gelegenheiten gefehlt hatte – entschuldigt und unentschuldigt. Und die ganze Zeit hatte Luke auf sie gewartet und ihr vertraut.
War es möglich, dass Vivi sie alle angelogen hatte?
Der Kuss . War dies der Anfang von allem gewesen?
Sie fuhr auf den Trampelpfad, parkte neben den beiden Wagen, ging zur Cottagetür, öffnete sie, ohne zu klopfen, und rief: »Hallo?«
Sie sah sie in einer Folge von Momentaufnahmen: Dallas, nackt im Bett, auf der Seite liegend … den Oberkörper von dicken, wulstigen Narben entstellt, einen tätowierten Arm besitzergreifend um ihre Schwester geschlungen. Selbst von der Tür aus erkannte sie, wie sie sich ansahen, sich berührten; das ganze Cottage roch nach Lust, Sex und Kerzenwachs.
Als sie eintrat, setzte er sich auf und blickte Winona direkt an.
Vivi bemühte sich, ihre Blöße zu bedecken. »Ich kann das erklären.«
Am liebsten hätte Winona gelacht. Nur mit äußerster Beherrschung blieb sie ruhig. Das war es. Das Aus für Vivi und Luke. »Ach ja? Das bezweifle ich.«
»Sie wird es nicht verstehen«, sagte Dallas. »Sieh sie dir doch an.«
Vivi Ann wickelte sich in den – jetzt ruinierten – rosafarbenen Quilt ihrer Großmutter und stieg schwankend aus dem Bett. »Bitte, Winona, lass es mich erklären.«
»Erklär das deinem Verlobten.«
»Das werde ich, Win. Ich schwöre es. Ich werde das Richtige tun. Ich weiß, du bist enttäuscht von mir.«
»Gib dir keine Mühe, Vivi. Sie hört dir gar nicht zu, sie ist zu eifersüchtig.« Dallas stand auf und stellte sich, vollkommen unbekümmert, nackt neben Vivi Ann.
Unter seinem Blick fühlte Winona sich wie im Scheinwerferlicht, durchschaut, ertappt. Sie wich vor ihm – vor ihnen – zurück. »Eifersüchtig? Träum weiter.«
Er nahm seine schwarzen Boxershorts vom Boden und zog sie an. »Mit Verlangen kenn ich mich aus, Winona, glaub mir. Du bist ja schon ganz krank davon.«
Sie kehrte ihm den Rücken und rannte zum Wagen. Zwar hörte sie Vivi Ann rufen, sie solle stehen bleiben und zurückkommen, aber sie ließ sich nicht aufhalten und knallte die Wagentür hinter sich zu. Sie ließ den Motor an und starrte eine Minute lang durch die schmutzige Windschutzscheibe zu ihrer Schwester, die, in den alten Quilt gewickelt, auf der Veranda stand.
Dann gab sie Gas und fuhr los, und als sie am Reitstall vorbeikam, dachte sie, dass es endlich vollbracht war.
Nach fünfundzwanzig Jahren der Unantastbarkeit war Vivi Ann
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