Das Geheimnis der Schwestern
nicht losziehen und es einfach mit einem Typen wie Dallas treiben. Ihr musste doch klar sein, dass sie erwischt werden würde. Sie musste doch erwischt werden. Es ist einfach eine Schande.«
Aurora wurde ganz still. »Was hast du getan, Winona?«
»Was meinst du damit?«
»Du hast es Luke erzählt, oder nicht? Ich wusste , dass es böse enden würde, als du Vivi Ann nicht die Wahrheit sagen wolltest.«
Winona stand auf. »Sei nicht albern. Los, gehen wir zur Parade. Vivi Ann wird auch da sein. Bestimmt hat sich Dallas aus dem Staub gemacht, und alles ist wieder gut. Du wirst schon sehen.«
»Du glaubst, Vivi Ann würde da auftauchen?«
»Was soll sie denn sonst machen?«
»Und wenn sie dir nicht verzeiht?«
Darauf gab Winona keine Antwort, sondern schob Aurora nur aus dem Haus. Während sie zum Grey Park gingen, versuchte sie, nicht an letzte Nacht zu denken, aber Auroras Worte hatten ihr alles wieder lebhaft in Erinnerung gerufen. Jetzt konnte sie nichts mehr verdrängen … ihre rasende Eifersucht, ihre verzweifelte Sehnsucht, ihre wachsende Verbitterung …
Sie war hinter Luke hergerast, weil sie alles zurücknehmen wollte, aber als sie am Cottage angekommen war und gesehen hatte, wie er Dallas verprügelte, hatte sie Dad aus dem Bett geholt, damit er ihr half.
Luke verprügelt Dallas. Du musst sofort kommen.
Luke … verprügelt Dallas? Wieso?
Weil Vivi es mit ihm getrieben hat.
Dieser Moment war es, der ihr immer wieder im Kopf herumging. Sie wollte sich einreden, dass sie in ihrer Wut unbedacht gehandelt hatte, nur glaubte sie selbst nicht daran. Sie hatte gewollt , dass ihr Dad die Wahrheit erfuhr.
Als sie in den Park einbogen, den ihr Großvater der Stadt geschenkt hatte, sah sie, dass ihr Vater mit Richard und den Kindern unter einem prächtigen Erdbeerbaum stand. Seit über fünfzehn Jahren trafen sie sich dort vor jedem Fest und jedem Umzug der Stadt. Diese Tradition hatte ihre Mutter begründet, als sie noch drei kleine Töchter und eine Gruppe kleiner Reitschülerinnen hatte, die zusammengetrieben werden mussten. Aber als sie heute dort standen, zählte nur, wer nicht da war.
Mit jeder Minute, die verstrich, wurden die Grundfesten ihrer Familie ein klein wenig mehr erschüttert und bekamen Risse. Um kurz vor zwölf schließlich ging Dad zum Mülleimer an der Straße, warf seinen leeren Plastikbecher hinein und drehte sich zu ihnen um. Zwar wirkte er immer etwas schroff und kühl, aber jetzt war er sichtlich gealtert. »Sie hat sich wohl entschieden. Los, gehen wir.«
Aurora sah Winona hilfesuchend an. Diese nagte an ihrem künstlichen Fingernagel, der wie die amerikanische Flagge lackiert war. »Wir können doch nicht einfach gehen. Sie kommt schon noch. Oder nicht?«
Winona musste zugeben, dass sie erschüttert war. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Kommt schon«, sagte Dad scharf. Er war bereits an der Ecke und bog auf die Straße ein.
Da Winona nicht wusste, was sie sonst tun sollte, folgte sie ihm.
In den nächsten zwei Stunden, die sie an der Seite ihres Vaters verbrachte, rechnete sie jede Minute damit, Vivi Ann auf einem Wagen oder auf Clem vorbeikommen zu sehen.
Aber ihre Schwester blieb verschwunden.
»Das bedeutet Ärger«, sagte Aurora, als der letzte Wagen der Parade an ihnen vorbeigezogen war. »Großen Ärger. Erzähl mir die ganze Geschichte. Warum hast du –«
Winona ließ sie einfach stehen. »Wir reden später darüber, Aurora«, rief sie über die Schulter zurück.
Fast im Laufschritt eilte sie zu ihrem Wagen, um dem Gerede der Leute zu entkommen. Sie sprang auf den Fahrersitz und fuhr zu Lukes Haus. Er war der Einzige, der verstehen und anerkennen würde, was sie getan hatte. Sie fand ihn genau dort, wo sie ihn erwartet hatte: auf der Veranda. Seine linke Hand war verletzt und blutverschmiert. Er saß da und starrte ins Leere.
»Hey«, sagte sie.
Er reagierte kaum, hob nur kurz das Kinn.
Sie setzte sich neben ihn. Ihr tat es in der Seele weh, ihn so zu sehen. Es war derselbe Schmerz, den sie schon verspürt hatte, als er sich Vivi Ann zuwandte. »Ich bin für dich da.«
Er antwortete nicht, sah sie nicht einmal an, und das machte sie nervös.
Sie wollte ihm den Arm um die Schultern legen. »Es ist für alle das Beste so, wirklich. Wenn sie dich nicht geliebt hat, musstest du das erfahren. Jetzt kannst du nach vorne blicken.«
Er schüttelte ihren Arm ab.
»Luke?«
»Warum hast du es mir erzählt?«
»Was? Du musstest es doch erfahren! Sie durfte
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