Das Geheimnis der Schwestern
Dad das Haus verließ und zu seinem Wagen ging.
Sah er zu ihr herüber? Das konnte sie nicht mit Gewissheit sagen. Aber er fuhr davon, ohne auch nur das Tempo zu drosseln, als er an ihrem Wagen vorbeikam. Bald würde er das Diner erreichen, wo er mit seinem Freund frühstückte; gegen Mittag würde er dann zum Grey Park fahren. Dort traf sich die Familie vor jedem Großereignis der Stadt an einer bestimmten Stelle. Die einzelnen Mitglieder kamen zusammen, um ein Ganzes zu bilden. Der Vater legte größten Wert darauf, dass sie immer zusammen erschienen. Es sollte allen vor Augen führen, dass sie eine Familie waren, die in der Stadt etwas galt. Zuerst würde er Aurora treffen (sie kam immer zu früh) und dann Winona.
Die Vorstellung tat überraschend weh, daher verdrängte sie sie. Ihre Schwester hatte sie am Abend zuvor verraten; auch darum musste sie sich kümmern. Später.
Jetzt war es Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Sie konnte zurück zu ihrer Familie gehen oder zu Dallas.
Sie wünschte, es wäre eine schwierige Entscheidung gewesen, aber die Wahrheit war, dass sie Dallas Raintree wollte.
Und zwar von Anfang an: seit er ihre Hand genommen und sie auf die Tanzfläche geführt hatte.
Sie zog sich an und ging zum Wagen. Als sie aus der Stadt fuhr, ertönten die ersten Klänge der Parade, doch an der Tankstelle hörte sie schon nichts mehr, und die Welt war wieder still, so dass sie nachdenken konnte – und sich Sorgen machen.
Würde er noch da sein?
Wollte er sie überhaupt? Er hatte nie gesagt, dass er sie liebte.
Als sie im Krankenhaus ankam, war er noch da. Er stand am Fenster seines Zimmers und starrte hinaus. Als sie eintrat, drehte er sich zu ihr um. »Verschwinde, Vivi. Wir sind fertig miteinander.«
Sie durchquerte das Zimmer, ging um sein Bett herum und trat auf ihn zu. Sie betrachtete sein Gesicht, und ihr Blick verharrte bei jeder Wunde, bei jedem blauen Fleck. Ihretwegen würde er an der Wange eine neue Narbe bekommen. »Du hättest dich wehren sollen.«
»Ach ja?«
»Du hast nichts falsch gemacht. Ich habe meinen Verlobten betrogen.«
»Lass mich in Ruhe, Vivi Ann.«
»Wenn du sagst, dass du mich nicht willst, gehe ich.«
»Ich will dich nicht.«
Sie sah ihm an, dass er log. »Was ist mein Lieblingseis?«
»Vanille. Wieso?«
»Heirate mich«, sagte sie, zu ihrer eigenen Überraschung.
»Du bist doch verrückt.«
»Von Anfang an waren wir beide verrückt.«
Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie sich wünschte, er würde ja sagen. Sie bekam Angst. Sie hatte immer bekommen, was sie wollte, ihr ganzes Leben lang. Was war, wenn sie dafür das verlor, was ihr am meisten am Herzen lag?
»Sag doch was«, flehte sie.
Als Winona die Haustür knallen hörte, wusste sie genau, wer da kam. Sie setzte sich auf die Bettkante und wartete.
In einer Wolke von Giorgio bog Aurora um die Ecke. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«
Winona hatte sich für die Parade zurechtgemacht, wusste aber, dass sie trotz kunstvoll frisierter Locken und starker Schminke schlecht aussah. Eine schlaflose Nacht hinterließ immer ihre Spuren. »Also hast du es schon gehört.«
»Du machst wohl Witze: Alle haben es gehört. Und vielen Dank übrigens, dass du mich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hast. Als Myrtle Michaelian mich darauf ansprach, hab ich ihr gesagt, sie solle ihr Klatschmaul halten.«
Winona seufzte. »Es war ziemlich hässlich gestern Abend.«
»Was genau ist denn passiert?«
»Vivi hat’s mit Dallas Raintree getrieben.«
Seufzend ließ sich Aurora in den Sessel am Fenster sinken. »Ach, du meine Güte. Das erklärt wohl einiges. Wie hat Luke davon erfahren?«
Winona betrachtete ihre Fingernägel. In der letzten Nacht hatte sie sie bis aufs Fleisch abgekaut. »Als ich zum Cottage kam, verpasste Luke Dallas eine Tracht Prügel. Dallas stand einfach nur da und ließ es lächelnd über sich ergehen, so als gefiele es ihm auch noch. Ich rannte los und holte Dad. Er sollte die beiden trennen. Aber als Vivi Ann zurückkam, schlug er ihr ins Gesicht und sagte, sie sei eine Schande für die Familie.«
»Er hat sie geschlagen?«, fragte Aurora und runzelte die Stirn.
Winona sah, dass ihre Schwester eins zum anderen fügte. Bevor sie eine Schwachstelle entdecken konnte, sagte Winona schnell: »Wahrscheinlich ist es das Beste so.«
»Was soll das heißen?«
»Besser, Luke erkennt jetzt, dass sie ihn nicht liebt. Und sie kann auch weiß Gott
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