Das Geheimnis der Schwestern
Winona.«
Winona spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
Dad öffnete die Geldkassette und wollte gerade die Teilnahmebeiträge auszahlen, als noch ein Wagen auf den Parkplatz fuhr. Winona war so mit der demütigenden Szene beschäftigt, dass sie erst nach einigen Sekunden merkte, wie die Leute Vivis Namen flüsterten.
Sie blickte ruckartig auf und spähte durch die Menge.
Tatsächlich, es war Vivi Anns Truck.
Die Männer drehten sich auf ihren Sätteln, um besser sehen zu können. Winonas erster Gedanke war: Gott sei Dank. Doch dann sah sie Vivi Ann und Dallas auf sie zukommen, händchenhaltend, als wären sie ein ganz normales Paar, das sich ein Rodeo ansehen will. Da wusste sie, dass Ärger in der Luft lag. Vivi Ann sah mit den zerschlissenen Jeans und dem knittrigen T-Shirt so schön aus, dass es fast blendete, und wenn sie die Sonne war, dann war Dallas der Schatten, kühl und dunkel.
Unheimliche Stille legte sich über die Menge, weil alle genau Bescheid wussten. Sie waren unsicher, wie sie sich verhalten sollten, vor allem die Männer, die sich in diesen Dingen immer auf ihre Frauen verließen.
»Hey, Dad«, sagte Vivi Ann, als wäre nichts geschehen. »Brauchst du meine Hilfe?«
Der Vater zögerte lang genug, um seine Verärgerung kundzutun, aber nicht so lange, dass das Zerwürfnis der Familie deutlich geworden wäre. »Du bist spät dran«, meinte er und schob ihr die Geldkassette zu.
Und damit nahm Vivi Ann wieder ihren Platz ein. Sofort lächelten die Cowboys ihr zu und hießen sie willkommen, während Dallas sich unter sie mischte und ein paar der Jüngeren mit Ratschlägen bedachte.
Winona traute ihren Augen nicht. Nach alldem – dem Sex, dem Betrug, der Ohrfeige – konnte Vivi Ann einfach so nach Water’s Edge zurückkehren und wurde auch noch willkommen geheißen?
Sie marschierte zum Snack-Stand, wo Aurora emsig Burger briet.
»Du wirst nicht glauben, was gerade passiert ist.«
Aurora wandte sich zu ihr. »Was denn?«
»Vivi Ann ist wieder da. Zusammen mit Dallas.«
»Waren sie die ganze Zeit zusammen?«
»Bin ich Jesus? Weiß ich alles? Keine Ahnung, aber sie benehmen sich wie die Turteltäubchen.«
»Das wird übel enden. Hast du dich bei ihr entschuldigt?«
»Ich? War doch alles ihre Schuld.«
»Nein«, sagte Aurora streng. »Du bist hier das Problem.«
»Wieso das? Hab ich etwa mit Dallas Raintree gevögelt, obwohl ich mit Luke verlobt war? Bitte, lass mich an deinen Erkenntnissen teilhaben, Aurora.«
»Luke ist nur ein Freund, Winona. Aber Vivi gehört zur Familie. Als es drauf ankam, hast du dich für Luke entschieden. Das weiß die ganze Stadt. Wie lange hast du gewartet, bevor du es ihm und Daddy erzählt hast?«
»Das muss ich mir nicht anhören«, sagte Winona und marschierte davon.
In der Arena hatte sie plötzlich das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Sie blickte sich um und fragte sich, was die Leute wohl über ihren Anteil an der ganzen Geschichte sagten. Kaum hatte sie angefangen, sich über ihren Ruf Sorgen zu machen, konnte sie nicht mehr damit aufhören. Sie kletterte in die oberste Reihe der Tribüne und verbarg sich im Schatten, bis das Roping zu Ende war. Dann ging sie zum Snack-Stand.
»Es ist also Stadtgespräch, dass ich es Luke verraten habe?«
Aurora stellte die Kochplatte ab und wischte sie sauber. »In einer Kleinstadt wie unserer gibt es eben keine Geheimnisse.«
»Das ist nicht fair. Ich habe mich richtig verhalten. Das werden die Leute irgendwann auch erkennen.«
Aurora seufzte. »Ich gehe Vivi Ann suchen. Kommst du mit, oder willst du dich verstecken?«
Winona verkniff sich eine bissige Antwort und folgte ihrer Schwester zum Parkplatz. Dort herrschte allgemeiner Aufbruch, und die Trucks mit ihren Anhängern bahnten sich wie eine bunte Schlange ihren Weg zur Hauptstraße zurück. Als sie alle verschwunden waren, standen Winona und Aurora am Zaun und ihr Dad am Offenstall. Sie warteten.
Vivi Ann und Dallas kamen mit großen Schritten auf sie zu. Hand in Hand.
Im purpurnen Licht der Abenddämmerung standen sie da, sahen die dunklen Weiden, hörten die Pferde, die am Zaun entlangtrabten, und das Wasser, das zum Meer zurückströmte.
»Er hat hier nichts mehr zu suchen«, sagte Dad.
Dallas rückte näher zu Vivi Ann und legte den Arm um sie. »Wir haben geheiratet.«
Keiner sagte ein Wort; einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen. Vivi Ann sah ihren Vater direkt an. »Ich möchte, dass wir alle hierhin gehören,
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