Das Geheimnis der sieben Palmen
Sie schläft! Ich habe vorhin eine halbe Stunde mit ihr geübt. Mein Ehrenwort: keine Minute länger! Immer dasselbe: Sie hängt mir im Arm wie ein nasser Sack. Und heult dabei. Kann man ja verstehen, Phil.« Sempa wischte sich über das breite Gesicht. Er wirkte hilflos wie ein Kind, das sich verirrt hat. »Phil – es gibt gar keine andere Erklärung: Wir müssen bei der Operation irgend etwas falsch gemacht haben …«
Wie jeden Vormittag nach den Gehübungen, die Sempa so gewissenhaft mit Evelyn machte, als sei er ein gelernter Heilgymnastiker, lag sie wieder auf dem Bett, ermattet, mit geschlossenen Augen, am Ende ihrer Kräfte. Aber das war ein trügerisches Bild. In Wahrheit war sie hellwach und wartete nur darauf, daß Sempa das Frühstück zu Phil brachte.
Kaum hatte er die Höhle verlassen, ziemlich verwirrt, daß die Gehversuche wieder so kläglich gescheitert waren, hob sie den Kopf und lauschte auf seine sich entfernenden Schritte. Fast tat er ihr leid; er bemühte sich mit wahrer Aufopferung um sie, hob sie aus dem Bett, stützte sie, fing sie mit beiden Armen auf, wenn sie einknickte und saß dann mit schlecht verborgener Erschütterung neben ihr.
»Es hilft nichts, Baby«, hatte er gestern gesagt. »Wir müssen üben, üben, üben! Ich werde dir ein Laufgestell bauen, in das du dich hineinhängen kannst, und dann übst du immer, sowie du wieder etwas Kraft hast. Eve, einmal muß es wieder normal werden! Du mußt ganz fest daran glauben, mußt die Zähne zusammenbeißen und es immer und immer wieder versuchen. Auch Phil ist das unerklärlich. Bei einer Blinddarmoperation können solche Erscheinungen nie auftreten, sagt er.«
Das war eine heikle Situation gewesen, aber Sempa war viel zu sehr mit diesem Rätsel beschäftigt, um der Lähmung Evelyns andere Motive zu unterstellen. Er ging dann zu Phil oder arbeitete auf den neuen Feldern, kommandierte sein goldenes Inkaheer oder ging in der Bucht schwimmen, wozu er Yuma, seine glitzernde Geliebte, immer mitschleppte.
Evelyn wartete ab, bis sie allein war. Dann sprang sie aus dem Bett und lief in der Höhle hin und her, um ihre Muskeln zu lockern und die ihr anfangs tatsächlich noch zusetzende Schwäche zu vertreiben. Schon am dritten Tag lief sie, wenn auch langsam, in der Höhle herum, am fünften wagte sie sogar einen Dauerlauf auf der Stelle, und am sechsten Tag konnte sie gerade noch im letzten Augenblick ins Bett schlüpfen und sich schlafend stellen, als Sempa auf nackten Füßen, also zunächst unhörbar, zur Höhle zurückkam, um ein geschlachtetes Huhn abzuliefern.
Jetzt, am achten Tag nach der Operation, war Evelyn so munter, als habe sie nie einen Balanceakt zwischen Leben und Tod hinter sich gebracht. Sempas schwere Schritte entfernten sich, sie verließ das Bett, schlich zum Höhleneingang und blickte ihm nach. Sein Besuch bei Phil dauerte meistens eine Stunde, manchmal auch eineinhalb Stunden; heute bestimmt länger, denn es war »Rasiertag«, wie Sempa es nannte. Heute entscheidet sich alles, dachte Evelyn Ball. In neunzig Minuten muß ich es getan haben! Fünf Tage lang habe ich Sempa täuschen können, aber auch er wird früher oder später nachdenklich und dann argwöhnisch werden. Heute ist der Tag, an dem der unbesiegbare Sempa in die Knie gehen muß.
Sie wartete, bis Sempa im Hinterland verschwunden war und rannte dann den Pfad über den Lavarücken entlang zur Bucht und zum Meer. Wie ein Wild sichernd, sah sie sich immer wieder um, blieb unten am Strand erst an den Felsen stehen und wartete ein paar Minuten, ob sie nicht von oben Sempa brüllen hörte. Es konnte ja sein, daß er etwas vergessen hatte und zurückgekommen war. Sie hatte das zweimal erlebt, aber beide Male hatte sie noch mit ihrer gespielten Erschöpfung im Bett gelegen; eine innere Unruhe hatte sie gewarnt, zu früh aufzustehen.
Heute gab es kein Warten mehr, heute gab es nur gewinnen oder verlieren – mit vollstem Einsatz und allen Risiken. Neunzig Minuten – das sind sechstausendsiebenhundertfünfzig Herzschläge. Sechstausendsiebenhundertfünfzigmal ein Hammerschlag gegen die Rippen – und jeder Schlag verkürzt die Frist, ist ein winziges Stückchen weggeklopften Lebens. Was sind sechstausendsiebenhundertfünfzig Herzschläge! Wie schnell sind sie vorbei …
Evelyn drückte sich gegen den glatten Basaltfelsen und wartete noch eine Minute. Nein, Sempa kam nicht zurück. Sie ist fertig, dachte er jetzt wohl. Diese halbe Stunde mit Gehübungen hat sie
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