Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
eben dieser Turm, aus dem der Bischof Flamboyard im elften Jahrhundert unseres Herrn mittels eines Seiles entkam? Euer erster Towerhäftling war zugleich auch der erste Flüchtling, wenn ich mich recht entsinne. Und dann gab es noch…«
»Es war nicht dieser Turm«, unterbrach ihn der Yeoman barsch. »Und jetzt weiter hier entlang. Ich bin nicht hier, um Euch mit alten Geschichten zu unterhalten.«
Sie stiegen eine Treppe zu einer hölzernen Galerie empor, die zurück zum äußeren Mauerring führte, betraten einen offenen Wehrgang und erreichten endlich das Viereck des Craddle Towers. Der Mond war gestiegen, hell glitzerte die Themse. Der Craddle Tower lag direkt beim Burggraben und diente dem König als Seiteneingang zum Tower.
Die Werft jenseits des Wassergrabens war für die königliche Barke durchbrochen worden. Es war die einzig halbwegs verwundbare Stelle der Festung, doch bislang hatte noch kein Gefangener den Sprung in die Tiefe gewagt, um dieses Schlupfloch in die Freiheit zu erreichen. Die Mauern waren hoch und der Wassergraben nicht tief genug, um den Aufprall eines Menschen abzufangen.
Der Yeoman klopfte gegen eine Tür und rief seinen Namen. Sie vernahmen das Klirren eines schweren Schlüssels im Schloss. Mit einem Kreischen öffnete sich die verzogene Tür zum ersten Stock des Gefängnisturmes.
»Besuch für den Grafen«, knurrte der Führer den Wachmann an, der die Tür geöffnet hatte. »Nicht mehr als eine halbe Stunde! Wenn die Glocke der Kapelle neun schlägt, müssen sie gehen. Ich halte hier draußen Wache, bleib du bei ihnen.«
Chapuys schob Lunetta und den maskierten Lambert an dem Yeoman vorbei in die Turmkammer.
»Vater!«, rief Lunetta und lief auf den Grafen von Löwenstein zu, der beim Kamin stand. Sie umarmten einander lange.
Chapuys wischte sich die Augenwinkel und winkte den Wächter herbei, der den Grafen die vergangenen Wochen betreut hatte.
»Guter Mann, Ihr kennt mich. Geht hinab zu Eurem Weib, sagt ihr, sie möchte uns etwas zu essen und zu trinken bereiten, denn wir haben ein Wiedersehen zu feiern.«
Der Wächter hob die Brauen. »Für eine halbe Stunde des Wiedersehens solch ein Aufwand?«
»Was später übrig bleibt, ist dein. Spar vor allem nicht am Wein.«
»Aber das kostet extra, Sire. Ihr bezahlt nur für zwei Mahlzeiten am Tag und das Brot am Morgen.«
»Aber gewiss, gewiss«, sagte Chapuys, griff in seinen Mantelbausch und zauberte zwei Silberlinge hervor. »Nehmt den Rest als Trinkgeld.«
»Beim Blute Christi, Eure Freude muss groß sein.« Der Yeoman lächelte entzückt und lief zu der Wendeltreppe, die in seine eigenen Kammern hinabführte. »Aber ich habe keine Orangen mehr, Sire«, rief er noch über die Schulter.
»Nicht nötig, Freund, nicht nötig. Was wir jetzt brauchen, ist Wein, guter Wein! Suche in deinem Keller nach dem besten Tropfen. Schau dich ordentlich um. Es soll nicht zu deinem Schaden sein.«
Als der Mann endlich verschwunden war, streifte Lambert seine Frauenkleider ab. Mit ruhigen Bewegungen löste Lunetta die Bänder und Haken. Lunettas Vater stieg aus seinem Wams und den Hosen, stand im Untergewand da. Die Männer tauschten in schweigender Hast die Kleidung. Chapuys schlich auf leisen Sohlen die Treppe zum Dach des Turmes hinauf und entriegelte die Falltür. Mit einem Satz sprang er die Treppe wieder hinab.
»Alles ist bereit«, zischte er in Lamberts Richtung. »Habt Ihr die Seidenschnur?« Der Kaufmannssohn nickte.
»Junger Mann«, flüsterte der Graf heiser. »Was Ihr für mich tut, werde ich Euch nie vergessen! Ihr riskiert Euer Leben dabei. Euer Fluchtweg ist der gefahrvollste.«
»Das ist nicht wichtig.« Lambert holte tief Luft. »Mein Leben ist ohnehin verwirkt. Man sucht mich in Köln als Mörder.«
Lunetta stürzte zu ihm hin, zerrte an seinem Arm. »Was redest du da? Du bist kein Mörder, du …«
Traurig sah Lambert sie an. »In Köln gelte ich dafür, Lunetta. Und das ist gut so, so kann mein Vater all das Unglück seines Hauses auf den missratenen Sohn schieben, und meine Familie ist gerettet.«
»Lambert, du musst mit uns kommen! Mein Vater wird seinen ganzen Einfluss geltend machen.«
»Begreife doch, ich kann nie mehr in meine Vaterstadt zurück. Kein Geld der Welt kann mich von dem Verdacht freikaufen. Ich war bereits einmal als Ketzer angeklagt. Es ist hoffnungslos.«
»Nein, Lambert«, protestierte Lunetta ungläubig. »Nein, es gibt einen Weg, es muss einen geben! Genau wie für meinen
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