Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Speisenträger eilten über eine breite Holztreppe aus dem Erdgeschoss herauf, um Lauchsuppe, Braten und Bier für die Speisung der nächsten zweihundert Höflinge herbeizuschaffen, die eben im Saal Platz genommen hatten. Niemand hatte Zeit oder Muße, von dem Spanier Notiz zu nehmen, der, statt die heimlichen Gemächer mit den gemauerten Urinalen aufzusuchen, die Dienstbotentreppe zum Küchentrakt hinabsprang.
Ein dunkles Labyrinth aus steinernen Gängen empfing ihn. Chapuys mischte sich in den beständigen Strom aus Küchenjungen, Lieferanten und Pagen, bis er einen schmalen Torbogen fand, der ins Freie führte. Er hastete durch ein Gewimmel aus dunklen, kühlen Zwischenhöfen, wo die Waschhäuser, Vorratskammern, Dutzende Garhäuser und Braustuben lagen, schoss über eine weitere Dienstbotentreppe nach oben in den Höflingstrakt, erreichte sein Gastzimmer und stürmte hinein. Sein Narr erwartete ihn bereits.
»Und?«
»Es scheint, dass die Königin vor der Zeit zu Bett gebracht worden ist«, erklärte der Zwerg listig und kraulte seinem Äffchen den Nacken.
»Bist du sicher?«
»Ich saß eben beim Apotheker, als man wegen Goldlack nach ihm schickte, um das Bettzeug der Königin damit zu tränken. Man nutzt die Tinktur, um Wehen zu lindern, wie Ihr wisst. Außerdem nahm er krampflösenden Hopfen, Baldrian und Liebfrauenstroh mit.«
Chapuys nickte. »Das passt zu meinen Beobachtungen. Ich sah Doktor Butts durch die Gärten zu den Gemächern der Königin eilen. Kurz vorher hatte die Musik ausgesetzt. Sie tanzt also nicht mehr.«
Der Zwerg griff nach einem verschrumpelten Klarapfel und reichte ihn seinem Äffchen. Das Tier nahm ihn zwischen die zierlichen Pfoten und begann ihn eifrig zu benagen. »Sie wird kämpfen wie eine Löwin, um das Kind bei sich zu behalten.«
»Sie kämpft nicht um das Kind, sondern um ihr Leben«, sagte Chapuys voll widerwilligem Respekt. »Gibt es auch Neuigkeiten aus Nell Twinkertons Reich?«
Der Zwerg verdrehte genüsslich die Augen. »Sie hat einen neuen Pudding mit Rosenwasser und Marzipan kreiert, der gleich in die Münder der Lords wandern wird. Ihr verpasst eine Sensation, mein Herr.«
Der Diplomat schnaubte. »Nicht in Gesellschaft dieser Tischgenossen.«
»Wenn es Euch um die spezielle Lieferung geht, die Ihr für Nell erwartet, so ist bislang noch nichts eingetroffen«, fuhr der Zwerg fort und setzte sich das Äffchen auf den Buckel.
»Geh und treib weiter deine Scherze mit dem Küchenpersonal«, sagte Chapuys, »und komme wieder, wenn du etwas Neues erfährst.«
Der Hofnarr nickte und verschwand.
Chapuys lehnte sich seufzend in seinem Lehnstuhl zurück und schloss die Augen. »Du hast einen merkwürdigen Sinn für Gerechtigkeit, Herr«, murmelte er. Morgen würde der Sarg Katharinas in der Abtei von Petersborough in die Gruft hinabgesenkt werden. Ausgerechnet an ihrem letzten Tag auf Erden setzten bei Anne Frühwehen ein.
Der Botschafter öffnete den Kragen seines Wamses, suchte eine noch bequemere Haltung und richtete sich auf eine weitere Zeit des Wartens ein, die erste und langweiligste Pflicht aller Diplomaten.
5.
L ONDON, AM FRÜHEN A BEND
Die Dämmerung hatte gegen vier Uhr am Nachmittag eingesetzt. Im Schein von Fackeln löschten die Schauerleute des Stalhofs nahe der London Bridge die Ladung der Antwerpener Galeone, die vor wenigen Stunden am Anleger des Hansekontors festgemacht hatte. Warenballen schwebten über dem gepflasterten Kai, Fässer mit rheinischem Steinzeug und bemalten Glasfenstern wurden aufgestemmt. Faktoren überprüften, ob ordnungsgemäß alles in Butter lag, um Bruch zu verhindern. Englische Zollschreiber notierten auf Wachstafeln die Liefermengen, um später die Abgaben für die importierten Güter zu errechnen. Heringstonnen wurden gewogen und mit Brandstempeln versehen, Weinfässer für Stichproben angezapft, jedes Schwertkreuz, alle Klingenkörbe und Harnische auf Risse überprüft, bevor sie in die verschiedenen Speicherhäuser geschafft wurden.
Lambert van Berck rieb sich in seinem Versteck fröstelnd die Hände. Seit Stunden harrte er nun schon in einer Mauernische bei dem bewachten Tor aus, das die deutsche Kaufmannsfestung gegen die City of London abschottete. Hin und wieder wagte er einen Blick durch das Tor zum Kai. Hinter ihm schwappte die Themse saugend und schmatzend gegen die Uferböschung.
In der Verwirrung, die auf der Brücke nach dem Auftauchen der spanischen Reiter geherrscht hatte, war ihm die Flucht gelungen.
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