Das Geheimnis der toten Voegel
eilig zum Abschied zu küssen. Sein Blick, der unermüdlich zur Armbanduhr gegangen war. Nachdem er ihr geholfen hatte, die Bilder in den VW-Bus zu packen, war noch ein wenig Zeit gewesen, ehe sie fahren musste. Vielleicht war es diese letzte halbe Stunde, die sie später stutzig gemacht hatte. Sowie Florian getan hatte, was von ihm erwartet wurde – die Bilder hinausgetragen und sie eilig und nachlässig neben den Mund geküsst, schon tief in Gedanken –, hatte er sich an den Computer gesetzt. Hatte sich eingeloggt, mit den Händen startbereit dagesessen und gewartet … dass sie abfuhr. Es war so deutlich, dass er sie von zu Hause weg wünschte. Sie hatte am Fenster gestanden und ihn beobachtet, den Mann, für den sie sich entschieden hatte.
Seinetwegen war sie aus dem Dorf an der finnischen Grenze weggegangen, in dem alle ihre Verwandten wohnten, wo sie ihre besten Freunde hatte, wo sie einfach Yrsa sein konnte, ohne etwas beweisen zu müssen. Wir bleiben in Kontakt, hatten sie einander versprochen. Wir hören voneinander! Aber es ist nicht dasselbe, sich einmal im Jahr zu sehen oder den Alltag miteinander zu teilen. Sie war so wahnsinnig verliebt gewesen, so jung und voller Erwartungen. War noch niemals einem Mann wie Florian begegnet – hatte noch nie so geliebt und sich so bestätigt gefühlt. Damals war die Wahl leicht gefallen. Dann war das Schwere gekommen: Florian wollte keine Kinder. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen.
Yrsa sah ihr Gesicht im Flurspiegel und strich sich über den flachen Bauch. Schon bald würde es zu spät sein. In diesem Jahr wurde sie vierzig. Es war der größte Kompromiss ihres Lebens gewesen, und zu Anfang hatte sie gehofft, dass er seine Meinung ändern würde. Hatte gedacht, es habe etwas mit Reife zu tun, dass die Sehnsucht schon kommen würde, wenn die anderen in ihrer Umgebung Kinder bekamen. »Warum willst du keine Kinder mit mir haben? Wie kannst du mir das nicht gönnen, wenn ich es doch so gerne will? Begreifst du nicht, wie wichtig es für mich ist? Antworte mir! Ich muss wissen, warum.« Er hatte versucht, es mit Unwillen und Verantwortung zu erklären, doch das genügte ihr nicht. Das war nicht die ganze Wahrheit. So hatte sich ein Teil zum anderen gefügt. Ein plötzliches Schweigen, als sie nach seiner Mutter gefragt hatte. Fotografien von der Familie, die es eigentlich geben müsste. »Was hat die Vergangenheit mit der Gegenwart zu tun, was hat das Leben deiner Eltern mit unserem zu schaffen?«
Er hatte es nicht in Worte fassen können, bis sie ihn damit konfrontiert hatte. Florians Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Der Vater war nie darüber hinweggekommen. Das Schweigen hatte wie ein tiefer Abgrund über seiner ganzen Kindheit gelegen. »Du solltest Hilfe in Anspruch nehmen. Das war doch nicht deine Schuld. Du kannst mir das nicht antun, nur weil du Angst hast. Florian, hör mir zu!« Der Augenblick, als alles möglich schien und sie dachte, dass sie es zu einem Durchbruch geschafft hätten. Sein blasses Gesicht, das im gestreiften Schatten der Jalousie lag. Sein Mund, der sich öffnete. Die Antwort, die niemals kam. Stattdessen hatte er sie allein gelassen. Sie hatte die Haustür zuschlagen hören, und dann … hatte sie gewartet, erst wütend, dann ängstlich und verzweifelt, stundenlang, bis er wieder nach Hause kam, und da hatte sie nicht mehr gewagt, darüber zu sprechen. Damals nicht und später auch nicht. Sie konnte sich fast Wort für Wort erinnern, was er gesagt hatte. »Wenn das so wichtig für dich ist, dann musst du einen anderen Vater für deine Kinder finden. Du bist frei zu gehen – geh, wenn es so wichtig für dich ist. Ich will nicht im Weg stehen, wenn es dich glücklich machen würde. Hör auf mit dem Herumgraben in meiner Kindheit. Das geht dich nichts an, und du täuschst dich.« Als sie versucht hatte, in seinem Arm Trost zu finden, hatte er sie von sich geschoben, damit sie auch wusste, dass er es ernst meinte. Und der Ernst befand sich immer noch als eine Art Wachsamkeit in seinem Blick, wenn er sah, wie sie sehnsuchtsvoll das Spiel der Kinder am Wasser beobachtete oder sich mit feuchten Augen abwandte, wenn sie einen schwangeren Bauch sah. »Geh, wenn es so wichtig für dich ist, Yrsa, aber mach mir keine Vorwürfe.«
Und jetzt, wo war er jetzt? Tante Edla im Haus nebenan hatte sich gewundert und die Zeitungen zu sich geholt, weil der Briefkasten übergequollen war. »Ich wollte nicht, dass jemand sieht, dass keiner zu
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