Das Geheimnis der toten Voegel
worden, und Restaurants durften nur eine begrenzte Anzahl Gäste aufnehmen. Der Busverkehr war eingestellt und alle Kinderkrippen geschlossen worden. Die Seuchenschutzärztin versuchte, diese Entscheidung zu erklären, aber die Menschen waren aufgebracht. Weiber! Er mochte ihnen nicht zuhören, sondern schaltete auf den Sender P1 um. Dort war blöderweise auch die Vogelgrippe Thema, aber der Ton der Gespräche war ruhiger und sachlicher.
»Ein schwedischer dreiundsiebzigjähriger Arzt, Johan Hultin, hat vor acht Jahren eine Expedition nach Alaska unternommen, wo er ein Massengrab aus dem Jahre 1918 untersuchte. Alle Bestatteten waren der Spanischen Grippe zum Opfer gefallen. Ziel der Expedition war es, Gewebeproben aus den Lungen der Verstorbenen zu entnehmen, um das Virus, das die Krankheit verursacht hatte, isolieren und untersuchen zu können. Johan Hultin gelang, woran andere vor ihm gescheitert waren. Der Virusstamm, den man mit Hilfe des eingefrorenen Materials entwickeln konnte, wird jetzt im Center for Disease Control in den USA aufbewahrt …«
Hier irgendwo musste Hans Moberg eingeschlafen sein. Als er erwachte, stand eine Frau mit einer Gießkanne in der Hand in der Tür und starrte ihn an. Wahrscheinlich hatte sie geschrien. Ihr Mund stand immer noch offen.
»Wer sind Sie?«, fragte sie, nachdem sie geräuschvoll Luft geholt hatte. Ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern waren rund und sehr blau, und sie schienen noch größer zu werden, als er sich langsam hinsetzte. Nur vorsichtig, er durfte sie nicht so erschrecken, dass sie floh.
»Das könnte ich auch fragen«, sagte er dann und klang ein wenig verärgert. »Cecilia hat mir versprochen, dass ich hier ungestört würde arbeiten können.«
»Entschuldigen Sie, ich …«
»Klas Strindberg«, stellte sich Hans vor und reichte ihr die Hand. Bei einer seiner Internetbekanntschaften hatte er die Rolle eines Romanautors gespielt, sodass er jetzt nur ein maßgeschneidertes Kostüm überwerfen musste. Ein schnarrendes Geräusch auf dem I, ein schwaches Kratzen auf dem R, und das Kinn arrogant in den Hals sinken lassen, das ergab die richtige Mischung. Das hatte er vor dem Spiegel geübt, und er wusste, welchen Eindruck es machte. Das Haar hätte er eigentlich zum Seitenscheitel kämmen müssen, aber das musste aufs nächste Mal verschoben werden.
Sie nahm seine Hand mit einem kalten, feuchten Griff und lächelte vorsichtig. Die Zähne waren ungleichmäßig und ein wenig schief. Er fand, das hatte einen gewissen Charme.
»Ich bin nur die Nachbarin. Ich sollte die Blumen gießen. Cecilia hat mir nicht gesagt, dass …«
»Natürlich hat sie das nicht. Wenn jeder wüsste, dass ich hier bin, dann würde ich niemals Ruhe zum Arbeiten finden. Die Zeitungen rufen an. Rundfunk und Fernsehen wollen Interviews. Meine Leser lassen keine Chance aus, ihre Bücher signieren zu lassen, und mein Verleger schwebt wie ein Geier über mir und erwartet Ergebnisse.« Die Frau verfolgte seine Geste in der Luft. Einfältiges Menschlein, dachte er. Sie sah nach nicht viel aus. Viel zu zugeknöpft, als dass es die Mühe wert wäre, aber da konnte man sich natürlich auch täuschen. Nur weil sie so aussah, als käme sie aus der Formularabteilung der Rentenkasse, musste sie ja nicht völlig uninteressant sein.
»Wie machen wir es dann mit den Blumen?«, fragte sie.
»Mit den Blumen?« Erst begriff er nicht, wovon sie redete. Die Blumen und die Bienen, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht war sie etwas tiefer gelegt, aber von außen sah sie ganz normal aus. Dann fiel sein Blick wieder auf die Gießkanne, und er begriff. »Die können Sie mit nach Hause nehmen. Ich brauche Ruhe, wissen Sie. Wenn ich kreativ bin, muss ich die Worte auf der Zunge zergehen lassen und spüren können, was für einen Nachgeschmack sie haben. Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Worte einen Nachgeschmack haben? Tausende von Menschen lesen meine Gedichtsammlungen, und ich darf sie nicht enttäuschen. Die Erwartungen werden immer höher.«
»Phantastisch! Ihre Gedichte verkaufen sich in solchen Auflagen? Wie heißen Sie noch mal, Klas Strindberg? Ich habe noch nie von Ihnen gehört, tut mir leid.« Ihr Blick bekam plötzlich etwas Neugieriges und Hungriges, und sie ließ sich überraschenderweise auf der Bettkante nieder. »Schreiben Sie unter Pseudonym?«
»Es ist lange her, seit ich mit etwas Neuem rausgekommen bin. Normale Menschen verstehen ja nicht, was für eine Kraft es erfordert,
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