Das Geheimnis der Totenmagd
Apothekerinnung hat eine Beschwerde gegen ihn eingereicht, weil er zum wiederholten Mal seine Arzneien selbst hergestellt hat. Der Fall ist ruchbar geworden, weil Stefenelli einer jungen Frau, die bei der Geburt viel Blut verloren hatte, eine Tinktur aus Mutterkorn verabreichte. Das ist ein Getreidepilz, der zwar sehr wohl blutstillende Eigenschaften hat, aber auch, wie man erst seit jüngster Zeit weiß, Halluzinationen hervorrufen kann und oft tödlich ist.«
»Ich weiß, es verursacht das ›Antoniusfeuer‹«, sagte Florian. »Der berühmte flandrische Meister Hieronymus Bosch soll damit experimentiert haben, bei der Arbeit an seinem Gemälde ›Die Versuchungen des heiligen Antonius‹. Kennst du es?«
»Gewiss kenne ich das Gemälde. Ein großartiges Werk«, antwortete Anna. »Es zeigt den Heiligen mit dem Kreuz in der Hand, wie er angstvoll und drohend zugleich vor drei schamlosen Weibern steht, die ihn mit ihren Reizen in den Bann ziehen wollen. Die Gruppe ist umgeben von düsteren Höllengestalten, die sich gegenseitig alle erdenklichen Qualen zufügen.«
»Genau. Und solche Höllengestalten sind Bosch angeblich erschienen, als er das besagte Mutterkorn eingenommen hat. – Und so etwas hat Stefenelli der armen Frau gegeben?«
»Es scheint so. In der Eingabe der Apothekerinnung wurde erwähnt, dass die Frau schlimme Wahnvorstellungen davongetragen habe und ein Zeh brandig geworden sei. Symptome, wie sie auch bei Leuten beobachtet wurden, die mit Mutterkorn verseuchtes Brot gegessen haben. Sie hat sich wohl rasch davon erholt, aber das Ganze muss doch für einigen Wirbel gesorgt haben. Stefenelli wurde nicht weiter belangt, sondern lediglich scharf ermahnt, Medikamente und Tinkturen künftig nicht mehr selbst herzustellen. Was ihm gemäß der Städtischen Medizinalordnung ohnehin verboten ist.«
Florian zog ein finsteres Gesicht. »Dieser Kurpfuscher!«, schimpfte er verächtlich. »Wer weiß, was er Katharina alles eingegeben hat, damals, als er sie nach der Hinrichtung unter seine Fittiche genommen hat. Sie war jedenfalls noch tagelang wie in Trance.«
»Ja, das ist mir auch aufgefallen. Ich habe sie doch einen Tag nach der Hinrichtung besucht, und da war sie stumpf und apathisch, wie ich das nicht bei ihr kannte. Damals habe ich es auf den Kummer wegen ihres Vaters geschoben. Aber, jetzt wo du das erwähnst, halte ich es durchaus für möglich, dass sie auch unter dem Einfluss irgendwelcher Medikamente stand.« Jetzt war es Anna, die nachdenklich vor sich hin schaute.
Florian unterbrach das Schweigen. »Sag mal, wie bist du denn eigentlich an Stefenellis Dienstakte gekommen?«, wollte er wissen.
»Ganz einfach: Ich habe die richtigen Leute geschmiert!« Anna musste unwillkürlich grinsen und schenkte sich und Florian noch einmal Honigwein nach.
*
Als Florian am Donnerstagabend um die fünfte Stunde die Werkstatt seines Meisters in der Kanngießergasse verließ, schwebten bauschige Schneeflocken durch die Gassen, und es war klirrend kalt. Auf den Butzenglasscheiben der Fachwerkhäuser glitzerten Eisblumen, und an den spitz zulaufenden Giebeln und den vielen kleinen Erkern hingen lange Eiszapfen. Ein paar dick eingemummelte Kinder mit vor Kälte geröteten Wangen tollten ausgelassen durch den Schnee. Auch die Erwachsenen, die auf dem Heimweg waren, schienen guter Dinge zu sein. Junge Leute lachten und scherzten miteinander, Handwerksgesellen, die gerade Feierabend gemacht hatten, zogen gemeinsam in die Schenken, um noch einen Schoppen zu trinken, Ehepaare hatten einander untergehakt und freuten sich auf die warme Stube.
Auf den jungen Meisterschüler indessen schien die allgemeine Fröhlichkeit nicht abzufärben. Die frohgemuten Menschen gemahnten ihn nur an seine eigene trostlose Stimmung, die grau war wie der abendliche Winterhimmel. Seitdem Katharina verschwunden war, wurde Florian seines Lebens nicht mehr froh. In der Werkstatt bei der Arbeit war er noch einigermaßen abgelenkt, aber an den langen, einsamen Abenden zu Hause übermannte ihn stets die Schwermut.
Daher hatte er für den heutigen Abend beschlossen, gar nicht erst heimzugehen, sondern stattdessen das Frauenhaus »Zum Rosengarten« in der Alten Mainzergasse aufzusuchen, um an dem Porträt der Hurenkönigin weiterzuarbeiten. Am 6. Januar, dem Dreikönigstag, hatte die Gildemeisterin Geburtstag, und bis dahin musste es fertig sein.
Als er wenig später an die Tür der Wohnstube klopfte, wo sich die Hurenkönigin und die
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