Das Geheimnis der Totenmagd
Runde. »Die saut uns ja noch das ganze Banner ein.« Als sich keiner meldete, kräuselte er angewidert die Lippen und schnaubte hämisch: »Dann nimm halt den Ärmel. Das gehört in deinen Kreisen ja zum guten Ton.«
Katharina sank auf ihren Stuhl zurück und hielt sich unwillig den Ärmel vor den schmerzenden Mund. Sie enthielt sich weiterer Äußerungen, um nicht tatsächlich durch Fesseln außer Gefecht gesetzt zu werden. Während sie verzweifelt über einen Ausweg nachdachte, ergriff Reinfried das schwarze Buch, das auf dem Tisch lag, und schlug es auf.
»Liebe Brüder und Schwestern des Todes. Es ist unserer unwürdig, die knapp bemessene Zeit, die uns noch bleibt, mit Jammern und Gezänk zu entweihen. Stattdessen wollen wir uns auf das Einzige besinnen, was unserem erbärmlichen Leben Größe verleiht: den Tod. Erst im Tode werden wir unsere wahre Bestimmung erfahren und von unserer überheblichen Blindheit befreit werden. Der wahre Mensch erkennt trotz aller Leiden seine Berufung an. Am Ende des Erlösungsweges des Jakobus steht das Wort: Dann bist du nicht mehr Jakobus, sondern der, der wahrhaft ist. Jakobus nimmt die Knechtsgestalt an, er nimmt die Strafe des vergänglichen Leibes auf sich, um sein Erlösungswerk zu vollbringen. Darum lasst uns gemeinsam den Berg des Leidens überwinden und unseren natürlichen Leib töten, auf dass wir den triumphalen Aufstieg des reinen Geistes erleben. Der geistige Leib ist unzerstörbar und unangreifbar von den Mächten der vergänglichen Welt. Er ist Licht und leidet nicht. Er ist der wahre Mensch, der aus dem Gefängnis des natürlichen Menschen erlöst werden muss. Denkt an die letzten Worte von Jesus Christus, der sich freiwillig seinen Häschern ergab und mit offenen Augen in den Tod ging: Ich sterbe des Todes, aber man wird mich lebendig finden. Der wahre Mensch bleibt lebendig, auch wenn der natürliche Leib stirbt. Lasst uns den Weg der vielen Formen verlassen, der so mühsam ist, und über die Schwelle in die ewige Glückseligkeit eingehen.«
Reinfried hatte sich regelrecht in einen Rausch geredet und war sichtlich ergriffen. In seinen Wolfsaugen glitzerten Tränen wie Eiskristalle. Auch die Brüder des Todes waren von den erhabenen und leidenschaftlichen Worten des Meisters derart betört, dass sie allenthalben in einen Zustand der Verzückung gerieten. Lediglich Katharina und Kilian, die über die Tafel hinweg beredte Blicke gewechselt hatten, verharrten angespannt auf ihren Stühlen.
»In morte sumus« , tönte Reinfried mit verklärtem Gesichtsausdruck, während der kalte Glanz seiner Augen Zufriedenheit verriet.
»Sumus in morte« , echote die Tischgesellschaft ergeben.
»So sei es«, erwiderte der Meister. »Wir werden nun mit unserem Ritual beginnen und alle gemeinsam, einer nach dem anderen, ins Königreich des Todes hinübergehen«, verkündete er salbungsvoll.
Er ergriff den Zinnkrug, öffnete ihn und füllte reihum die sieben Becher. In dem Gewölbe herrschte plötzlich völlige Stille, lediglich die gluckernden Geräusche der Flüssigkeit waren zu vernehmen. Sogleich breitete sich ein scharfer Geruch nach Mäuseurin im Keller aus. Katharina brach der kalte Schweiß aus.
»Was ist das?«, fragte sie panisch.
»Das ist Rotwein, durchsetzt mit den pulverisierten Früchten des gefleckten Schierlings. Ein hochwirksames und schnell wirkendes Gift, das uns schnell und schmerzlos über die Schwelle bringen wird«, erwiderte Reinfried, der so ruhig und gelassen wirkte wie bei einem erquicklichen Umtrunk, im Plauderton und strahlte sie an. Anschließend richtete er seinen Blick auf Kilian zu seiner Linken.
»Bruder Kilian, dir als mein treuer Gefolgsmann und Wegbereiter soll die Ehre zuteil werden, den Anfang zu machen. Wir werden dich bei diesem weihevollen Akt mit unseren Fürbitten unterstützen.« Er machte eine auffordernde Handbewegung, und gleich darauf erklang der düstere Singsang der Brüder des Todes, wie er gewöhnlich bei einem Todesritual deklamiert wurde:
»Suche den Tod wie die Toten, die das Leben suchen. Suche den Tod deines natürlichen Wesens und finde deine Erlösung. Werde leer, und kehre ein ins Königreich des Todes.«
»Trink nur, Bruder«, forderte Reinfried Kilian auf. »Keine Angst, es wird auch ganz schnell gehen.«
In dem Verlies herrschte Totenstille, und alle Augen richteten sich auf Kilian, der heftig zu schlottern begonnen hatte.
»Ich … ich kann nicht«, winselte der ehemalige Mönch und wirkte wie von
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