Das Geheimnis der Totenmagd
großen Freude unserer Eltern, die ja über eine graue Büchermaus wie mich schon genug enttäuscht waren. Die gleichermaßen stolzen wie glücklichen Familienvorstände richteten in unserem Stammhaus ein glanzvolles Fest aus. Anna blätterte weiter und fand schließlich auch den entsprechenden Eintrag, datiert auf den 6 . Mai 1506 .
Ähnlich wie bei ihrer Geburtstagsfeier schwelgte Mechthild auch hier wieder in der genauen Beschreibung ihres Verlobungsgewandes, der illustren Gäste und der kostbaren Geschenke, mit der man die angehenden Brautleute überhäufte:
Alles, was in Frankfurt Rang und Namen hat, war auf unserer Verlobungsfeier vertreten. Selten habe ich eine glanzvollere Festivität erlebt. »Wie prachtvoll wird erst unsere Hochzeit sein?«, flüsterte ich meinem Liebsten überglücklich zu. »So prachtvoll, wie es sich für meine Märchenprinzessin gebührt«, raunte er mir zärtlich ins Ohr und streifte dabei meinen Hals mit seinen Lippen. Es überlief mich heiß und kalt, ich hätte augenblicklich vergehen mögen vor Wollust. Ich hege nur den einen Wunsch: Ihm endlich ganz nahe zu sein …
Damals hatte Mechthild ihr anvertraut, dass sie und Ronald sich an jenem Tag zum ersten Mal geküsst hatten. In aller Heimlichkeit auf dem nächtlichen Balkon, als sie für wenige Minuten alleine und unbeobachtet waren. Obwohl die Schwestern so gegensätzlich waren und sich zuweilen kabbelten und mit Spitznamen zu necken pflegten – sie nannte ihre Schwester immer ›Tausendschönchen‹, und für Mechthild war sie der ›Bücherwurm‹ –, waren sie sich im Grunde genommen doch sehr zugetan, und Mechthild vertraute ihr, der grauen Maus, die ihr nie eine Konkurrentin hätte sein können, vieles an.
»Diese beiden Turteltauben«, murmelte Anna und musste mit einer gewissen Bitterkeit an die folgenden Monate denken, in der ihr das zweifelhafte Vergnügen zugekommen war, bei den zahlreichen Tête-à-Têtes von Mechthild und Ronaldus als Anstandsdame zu fungieren. Angesichts der zärtlichen Blicke und Liebesbezeugungen war sie sich die meiste Zeit höchst überflüssig und störend vorgekommen. Anna überflog die folgenden Eintragungen, die von nichts anderem handelten als vom überbordenden Glück einer jungen Liebe. Mechthild fieberte der Hochzeit entgegen, die für den 7. Juli des darauffolgenden Jahres angesetzt war.
Doch dazu ist es ja nicht mehr gekommen, dachte Anna traurig, denn dann brach die Pest aus, und alles wurde anders. Den verhängnisvollen Tag hatte Mechthild in ihrem Tagebuch dokumentiert.
Montag, den 3. Juni im Jahre des Herrn 1507
Heute in den frühen Morgenstunden wurde die Sturmglocke der Sankt-Bartholomäus-Pfarrkirche geläutet. Verschlafen stürzten meine Eltern, meine Schwester Anna und ich aus unseren Zimmern und eilten zum Rathausplatz, um die Ankündigung des Rathaustrompeters zu hören, denn das Läuten der Glocke bedeutete, dass große Gefahr drohte.
»Entweder Feuer, Hochwasser, Krieg – oder die Pest«, erläuterte mein Vater mit tonloser Stimme und bekreuzigte sich.
Als wir auf den Römerberg kamen und meine Eltern der schwarzen Fahnen gewahr wurden, die am Rathausturm und auf der Bartholomäuskirche gehisst waren, rauften sie sich die Haare und brachen, wie viele der Stadtbürger um uns, in lautes Wehklagen aus, denn im Gegensatz zu uns jungen Leuten wussten sie, was das bedeutete. Wenig später wurde die Schreckensnachricht verkündet: »Der Schwarze Tod hält Einzug in der Stadt – Gott steh uns allen bei!«
Die Panik und Verzweiflung unter den Menschen auf dem Platz griffen auch auf mich über. Noch niemals in meinem Leben habe ich solche Angst gehabt. Wie alle anderen schrie und weinte ich und war wie von Sinnen. Wie ein kleines Kind klammerte ich mich an meine Eltern und suchte bei ihnen Schutz. Doch auch sie zitterten wie Espenlaub. Es kam mir vor, als wäre das Ende der Welt angebrochen.
Drei Tage später fand sich ein erneuter Tagebucheintrag. Anna fiel auf, dass Mechthilds Schönschrift merklich krakeliger geworden war.
Donnerstag, den 6. Juni im Jahre des Herrn 1507
In den Gassen, auf den Plätzen, überall riecht es nach Tod. Ich mag gar nicht mehr aus dem Haus gehen. Doch selbst hier rieche ich ihn, diesen ekelhaften süßlichen Verwesungsgestank. Mein ganzes Leben besteht nur noch aus Angst. Angst, mich anzustecken und an der abscheulichen Seuche zu erkranken. Ich mag niemanden mehr sehen oder treffen, selbst Ronaldus nicht. Auch er könnte die
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