Das Geheimnis der Totenmagd
dämmerte vor sich hin. Nachdem sich dieser bedauernswerte Zustand auch nach über einer Woche nicht gebessert hatte, bat mein Vater den Stadtphysikus Stefenelli, der ja in dem Ruf steht, ein hervorragender Arzt zu sein, nach Mechthild zu schauen.
Doktor Stefenelli nahm sich viel Zeit für seine Untersuchung. Fast zwei Stunden brachte er an Mechthilds Krankenlager zu, wobei er sich ausbedungen hatte, man möge ihn mit der Kranken alleine lassen und nicht stören. Anschließend sprach er mit meinen Eltern und zeigte sich sehr besorgt:
»Eure Tochter leidet an einer tiefgreifenden Melancholia, die wohl auf die Schrecken der Pest zurückzuführen ist«, konstatierte der weltgewandte Arzt mit dem markanten Gesicht ernst. »Bei besonders sensiblen Gemütern ist dies keine Seltenheit. Ich habe mehrere Patienten, die, obschon sie nicht an der Seuche erkrankten, angesichts des großen Sterbens gemütskrank geworden sind. Manche erholen sich nach geraumer Zeit wieder und kehren ins Leben zurück, andere hingegen bleiben für immer gebrochen. Bedauerlicherweise vermag es die ärztliche Kunst selten, diesen armen Geschöpfen zu helfen, und ich muss zugeben, dass ich im Falle Eurer Tochter Ähnliches befürchte. Erscheint mir doch ihre Schwermut wie ein mächtiger Dämon, der von ihrer Seele Besitz ergriffen hat.« Der Doktor bedachte uns alle mit einem mitfühlenden Blick aus seinen schräg stehenden graugrünen Augen, die mich irgendwie an Wolfsaugen erinnerten.
Als meine Eltern daraufhin in Wehklagen ausbrachen, tröstete und beruhigte uns Doktor Stefenelli einfühlsam. »Es gibt keinen Grund zu verzagen«, erklärte er mit seiner sonoren, angenehmen Stimme. »Noch ist sie nicht ganz verloren, und es besteht durchaus Hoffnung.« Er hielt kurz inne, während wir drei ihn mit großen Augen anstarrten.
»Mir ist ein junger Mönch bekannt, der auf die Behandlung schwerer Gemütskrankheit spezialisiert ist«, fuhr er in ruhigem Tonfall fort. »Er versteht es trefflich, solcherart Erkrankte durch tröstende Gespräche und aufrichtende Gebete von ihren krankhaften Phantasien abzubringen.«
Ich muss wohl etwas skeptisch dreingeblickt haben, denn Doktor Stefenelli ergänzte mit einem nachsichtigen Lächeln in meine Richtung:
»Ihr müsst wissen, dass es sich bei Gemütskranken nicht um Kranke im klassischen Sinne handelt, die man mit Hilfe der Medizin heilen kann. Melancholiker sind oftmals von bösen Mächten besessen, die ihnen Geist und Seele verdüstern. Daher werden Geisteskranke auch kaum von Ärzten betreut, sondern in die Obhut von Geistlichen gestellt, die als Seelsorger und Krankentröster heilsam auf sie einwirken. Der von mir empfohlene Pater ist ein hervorragender Krankentröster, dem es sogar schon mehrfach gelungen ist, selbst jene unter den Schwermütigen zu kurieren, die sich der versuchten Selbstentleibung schuldig gemacht haben.«
Meine Eltern hingen förmlich an seinen Lippen und hatten vor Hoffnung schon ganz glänzende Augen bekommen. Ich hingegen hatte kürzlich von einem tragischen Ereignis gelesen, welches sich im bayrischen Passau zugetragen hatte: Eine tobsüchtige junge Frau war bei einer Teufelsaustreibung zu Tode gekommen, die ein auf Exorzismus spezialisierter Priester auf geradezu bestialische Weise an ihr vollzogen hatte.
»Handelt es sich hierbei etwa um einen Teufelsaustreiber?«, erkundigte ich mich misstrauisch.
»Wo denkt Ihr hin, mein junges Fräulein!«, entgegnete Doktor Stefenelli mit leichtem Spott, was mich auf der Stelle erröten ließ und mir vorwurfsvolle Blicke meiner Eltern einbrachte. »Davon kann ja überhaupt nicht die Rede sein. Solche Rosskuren, wie sie zuweilen in Fällen schlimmer Tobsucht zur Anwendung gelangen, sind bei Eurer Schwester, die ja nicht von Sinnen ist, vollkommen entbehrlich. Pater Kilian wird ihr eine aufbauende, umfassende Seelsorge spenden, und wenn überhaupt, dann sind seine Exorzismen von ganz sanfter Natur.«
Nachdem der Medicus meinen Eltern gegenüber noch hervorgehoben hatte, dass Pater Kilian nicht nur überaus gelehrt, sondern überdies noch von adeligem Geblüte sei, baten diese eindringlich darum, dass der Vielgepriesene doch baldigst in unserem Hause vorstellig werde. Doktor Stefenelli versprach dies schon für den nächsten Tag, verordnete meiner Schwester ein ordentliches Quantum Theriak, ein opiumhaltiges Allheilmittel, welches ein Hausknecht noch an selbigem Abend in der Apotheke holte, und verabschiedete sich, nachdem ihn mein Vater
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