Das Geheimnis der Totenmagd
geblieben, hatte Anna ihre dünnen Ärmchen entgegengereckt und »Gute Nacht, Anna« geflüstert. Anna hatte daraufhin Mechthilds Hände ergriffen und sie verzweifelt gedrückt. Doch sie hatte die Schwester nicht zurückhalten können.
Und es war ein Abschied. Ein Abschied für immer.
Als sie am nächsten Tag die schreckliche Nachricht vom Tod ihrer Schwester erhielt, war Anna in Mechthilds Zimmer geflüchtet, um der Toten nahe zu sein und sich ihrer Trauer ungestört hingeben zu können. Sie hatte sich auf Mechthilds Bett geworfen und lange Zeit lauthals geweint. Später ging sie durch den Raum, berührte die Gegenstände auf den Regalen und strich über die feinen Gewänder in der Kleidertruhe, die Mechthild schon so lange nicht mehr getragen hatte. Voller Wehmut nahm sie Abschied von der geliebten Schwester, die doch eigentlich so lange schon entschwunden war – seit sie so anders geworden war.
Nachdenklich hatte Anna die kleine Truhe neben dem Bett geöffnet, in der Mechthild ihre geliebtesten Schätze aufbewahrte. Sie entdeckte einen kleinen Bücherstapel, ein paar galante Ritterromane, ein Gebetbuch und ganz zuunterst Mechthilds Stundenbuch, dass Anna ihr vor drei Jahren zu ihrem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Der erste Eintrag war auch auf diesen Tag datiert. Unter der in großen, schwungvollen Buchstaben geschriebenen Überschrift Stundenbuch der Mechthild Stockarn stand der Datumseintrag Donnerstag, den 12. Februar im Jahre des Herrn 1506 . Während Anna anfing zu lesen, breitete sich ein sanftes Lächeln auf ihren verweinten Gesichtszügen aus. Das war noch ganz die alte Mechthild, die wir alle so geliebt haben, ging es ihr durch den Sinn.
An meinem heutigen Festtag darf ich zum ersten Mal mein neues Gewand aus rubinrotem venezianischen Samt tragen, welches meine lieben Eltern bei den vortrefflichsten Gewandmachern Frankfurts, den Gebrüdern Teipel in der Braubachgasse, für mich anfertigen ließen. Die langen, weiten Ärmel sind oben mit kleinen Teufelsfenstern verziert und über und über mit funkelnden Granaten bestickt …
Auf den folgenden Seiten erging sich Mechthild in der detailgetreuen Schilderung ihrer Garderobe, ihres Schmuckes und ihrer Haartracht, die sie für ihren Ehrentag ausgewählt hatte, was Anna, die sich im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester schon immer lieber mit Büchern befasst hatte, nur mäßig interessierte. Anschließend folgte eine genaue Auflistung all ihrer Freundinnen, die zu ihrer Geburtstagsfeier erschienen waren, und der verschiedenen Geschenke, die sie von ihnen erhalten hatte:
Ännchen Weiß von Limpurg – eine vergoldete Parfümdose, die man am Gürtel tragen kann, mit kostbarem Rosenöl … Hertha von Stalburg – eine perlenbestickte Almosentasche aus rosafarbener Seide … Christine von Holzhausen – ein kunstvoller Kamm aus Elfenbein …
Anna schmunzelte. Zu jener Zeit war ihre Schwester noch ganz und gar in den vielfältigen gesellschaftlichen Vergnügungen aufgegangen, mit welchen sich junge Leute ihres Standes zu verlustieren pflegten. Sie hatte kaum eine Festivität ausgelassen, hatte eine große Anzahl ausgesuchter Freundinnen, die aus den vornehmsten Häusern Frankfurts stammten, und eine nicht minder große Heerschar an jungen Verehrern. Wie schön und strahlend sie damals noch war. Was ist nur später aus ihr geworden! Anna schnürte es vor Schmerz die Kehle zu. Sie las weiter. Es folgten die Namen der jungen Patriziersöhne, die sich an jenem Tag die Ehre gaben, Mechthild mit ihrem Besuch zu beglücken, und sich mit kostspieligen Geschenken an sie nur so übertrafen.
Von Ronaldus Heller – eine kostbare Rubinbrosche, das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe! Ich habe sie sogleich an mein Kleid gesteckt, Mutter hat mir dabei geholfen. Mir sind vor lauter Freude fast die Tränen gekommen. Ich liebe ihn so sehr, den Wunderbaren! Ob er etwas davon ahnt? Den ganzen Tag über hatte ich Augen nur für ihn, und auch er sah mich immer wieder an. Beim abendlichen Reigentanz fassten wir uns grazil an den Händen und bewegten uns zu den klangvollen Lautenklängen so harmonisch, als wären wir füreinander geschaffen. Bei aller Sittsamkeit unserer Bewegungen waren doch die Blicke, die wir einander zuwarfen, von verzehrender Leidenschaft. Ich habe nur noch den einen Gedanken: Mit Leib und Seele ihm zu gehören …
Amüsiert erinnerte sich Anna, dass schon drei Monate später die Verlobungsfeier stattgefunden hatte. Zur
Weitere Kostenlose Bücher