Das Geheimnis der Totenmagd
schweigend im Hintergrund gehalten hatte, nickte geflissentlich.
Mechthild fuhr fort: »Unzählige Stadtbürger haben alles stehen und liegen lassen und sich in die Büßerprozession eingereiht. Und … Ronaldus und ich haben beschlossen, dass wir ihnen gleichfalls beitreten möchten. Wir … wir wollten Euch nur noch rasch Bescheid geben, dass Ihr Euch keine Sorgen um uns macht.« Bei diesen Worten sah sie unsere Eltern mit ihren großen blauen Augen entwaffnend an, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte.
Mein Vater fuhr entrüstet auf. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, dass du mit diesen Selbstquälern über die Lande ziehst. Da werden die Hellers gewiss ganz meiner Meinung sein, nicht wahr, Ronaldus?«
Da schubste Mechthild ihren Verlobten an und raunte ihm zu: »Los, sag es schon!«, und der junge Mann erklärte betreten: »Nein, Herr Stockarn, dem ist nicht so. Meine Eltern sind gleichermaßen begeistert von dem Geißlerführer, sie haben ihn für heute Abend sogar in unser Haus eingeladen.«
»Alle reißen sich um diesen wunderbaren Mann, Vater. Sogar der Stadtschultheiß ist vor ihm auf die Knie gegangen und hat seinen Segen erbeten. Bitte, Vater, erlaubt es mir doch! Ronaldus wird mich begleiten. Es ist doch nur für dreiunddreißig Tage und acht Stunden, dann komme ich wieder zurück …«, flehte Mechthild.
»Das muss ich mir erst noch gut überlegen. Ich werde mich mit Ronaldus’ Vater beraten und mir bei dieser Gelegenheit diesen Geißlerführer einmal genauer anschauen«, beschied sie der Vater streng.
Gleich nach dem Abendessen eilten sie dann allesamt zum Hause Heller, um den Wundertäter in Augenschein zu nehmen. Nur ich zog es vor, zu Hause zu bleiben, denn solche religiösen Eiferer und selbsternannten Propheten waren mir suspekt. Es endete damit, dass auch meine Eltern von dem heiligen Mann äußerst angetan waren und es Mechthild erlaubten, ihm in Begleitung ihres Bräutigams am nächsten Tag zu folgen, unter der Bedingung, dass sie nach der festgelegten Bußzeit umgehend nach Hause zurückkehren würde.
Es ergab sich jedoch, dass wir von Mechthild und Ronaldus monatelang nichts mehr hörten. Meine Eltern waren ganz krank vor Sorge, im Stillen gingen wir längst davon aus, dass Mechthild an der Pest gestorben war. Eines Tages, die Seuche war bereits am Abklingen, stand sie dann plötzlich vor der Tür. Wir alle weinten Freudentränen über ihre Rückkehr, doch bald mussten wir feststellen, dass Mechthild alles andere als unversehrt war. Sie war in einem jämmerlichen Zustand, trug eine dreckstarrende, stinkende schwarze Kutte und war bis auf die Knochen abgemagert. Ihr einst so strahlend schönes Gesicht war eingefallen und bleich, sie hatte dunkle Ränder unter den Augen, und ihre einst so lebendigen himmelblauen Augen blickten stumpf. Sie sprach kaum ein Wort und zeigte nicht die geringste Wiedersehensfreude. Auf Fragen antwortete sie einsilbig oder gar nicht, und auf alle Zuwendung und Fürsorglichkeit reagierte sie mit kalter Teilnahmslosigkeit. Meine Eltern erkundigten sich auch nach Ronaldus.
»Wir haben uns getrennt«, murmelte sie gleichgültig. »Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht.«
Meine Eltern und ich verstanden die Welt nicht mehr. Sie hatte Ronaldus doch so geliebt! Mein Vater suchte daraufhin das Stammhaus der Hellers auf, um Genaueres in Erfahrung zu bringen, doch er wurde von dem alten Heller ungewohnt kühl abgespeist mit den Worten, Ronaldus befinde sich auf einer Handelsreise und sei nicht zu sprechen.
Mehr als einmal habe ich mit meiner Schwester unter vier Augen gesprochen, so wie früher. Doch auch mir, die einst ihr volles Vertrauen genossen hatte, begegnete sie nur noch abweisend und verschlossen. Wir schrieben ihre Wesensveränderung zunächst den Schrecken der Pest zu. »Die Pest ließ die Herzen der Menschen gefrieren«, sagt der große Boccaccio in seinem Decamerone, und wir glaubten, wenn man Mechthild entsprechend aufpäppeln würde, könnten ihre Lebensgeister zurückkehren, und sie wäre wieder die Alte, Frohgemute. – Aber das ist niemals wieder eingetreten.
Mit tränenverschleierten Augen hielt Anna inne und schluckte ein paarmal. Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln, tauchte den Federkiel in die Tinte und schrieb weiter:
Obwohl sie so entkräftet und abgemagert war, nahm sie kaum noch etwas zu sich. Die meiste Zeit lag sie im Bett und
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