Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Totenmagd

Das Geheimnis der Totenmagd

Titel: Das Geheimnis der Totenmagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Neeb
Vom Netzwerk:
tödliche Krankheit in unser Haus tragen. Ich kann dieses ganze Elend nicht mehr ertragen.
    Anna hatte die schreckliche Zeit, als der Schwarze Tod im ganzen Land wütete, noch deutlich im Gedächtnis. Verzweifelt und erschüttert wie alle Menschen, hatte sie damals Trost und Kraft in den Büchern gesucht und schließlich damit begonnen, eine Pestchronik zu verfassen, was ihr wenigstens zeitweise half, nicht ganz zu verzagen. Ihre Schwester jedoch, die bis dahin immer nur auf Rosen gebettet gewesen war, schien das große Sterben und das abgrundtiefe Leid über die Maßen zu erschüttern. Und dann hat sie sich in ihrer Verzweiflung den Geißlern angeschlossen.
    Angespannt blätterte Anna weiter in dem Stundenbuch.
    Es fand sich nur noch ein einziger Eintrag, der nicht datiert war. Die Seite war schmuddelig und zerknittert und Mechthilds Schrift derart unleserlich, dass Anna das Geschriebene kaum entziffern konnte. Sie brauchte lange, bis sich ihr nach und nach der Inhalt erschloss:
    Heute Nacht hat er mich genommen. Das Blut ist mir die Schenkel heruntergelaufen, so heftig ist er in mich eingedrungen, denn ich war ja noch immer jungfräulich. Ich bin glücklich, dass ich mich für ihn aufgespart habe. Ihn, dem ich nun mit Haut und Haaren angehöre , mit Leib und Seele, mit allem, was ich habe. Ihm allein schenke ich mein Leben. Er ist mein Herr und Meister, jetzt und immerdar.
    Anna brach der kalte Schweiß aus. Entsetzt starrte sie auf die hingekritzelten Worte. Das muss sie geschrieben haben, als sie bei den Geißlern war, durchfuhr es sie wie ein Blitzschlag. Da kann sie nicht mehr recht bei Trost gewesen sein!
    Hektisch blätterte sie weiter, doch es fanden sich nur noch leere, unbeschriftete Seiten in dem Büchlein. Nichts über Mechthilds Aufenthalt bei den Geißlern, nichts über ihre Trennung von Ronaldus, nichts über die Zeit danach! Sie ist und bleibt für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Wer war dieser Mann? – Ihr Herr und Meister immerdar … Ronaldus kann es kaum gewesen sein, von ihm hat sie sich ja getrennt. Ob es am Ende gar der Anführer war?
    Lange Zeit saß Anna einfach nur an ihrem Schreibpult und ließ die mannigfaltigen Erinnerungsbilder an sich vorüberziehen, die sie von ihrer Schwester hatte. Dann richtete sie sich auf. Ich werde das alles zu Papier bringen, dachte sie entschlossen, legte sich Schreibpapier zurecht, ergriff die Feder und fing an zu schreiben.
    Die Entrückte
    Es war ein strahlend schöner Oktobertag mit einem blauen wolkenlosen Himmel. Die Bewohner Frankfurts waren jedoch fern davon, die milde Herbststimmung zu genießen. Überschattet von dem großen Sterben, das im ganzen Lande Einzug gehalten hatte, war unser aller Leben nur noch eine einzige trostlose Finsternis.
    Das erste Pestopfer in unserer Familie war mein Bruder Willibald, der Stammhalter unseres Geschlechts, der sich auf einer Handelsreise im fernen Venedig befand. Das laute Klagen meiner verzweifelten Eltern raubte mir fast den Verstand. Ich verkroch mich die meiste Zeit in meiner Studierstube und las im Decamerone des großen Dichters Giovanni Boccaccio, in welchem er so eindringlich den Ausbruch der Pest im Jahre 1348 in Florenz beschreibt. Plötzlich klopfte es an meiner Tür, und meine Schwester Mechthild trat ein.
    »Ronaldus und ich gehen jetzt zum Rossmarkt, um dort den berühmten Wundermann aus dem Westerwald zu sehen, der die Pest überlebt hat. Er hat riesige Büßerscharen um sich geschart. Es heißt von ihm, er sei ein Heilsbringer. Kommst du mit?«, sprudelte es aus ihr heraus. Ihre Wangen waren vor Eifer gerötet, und ich entdeckte an ihr fast wieder die Begeisterungsfähigkeit, die ihr früher einmal zu eigen gewesen war.
    »Ach, ich weiß nicht«, erwiderte ich verdrießlich. »Diese morbide Selbstquälerei finde ich abstoßend, und das laute Jammern, das die Geißler immer von sich geben, geht mir durch Mark und Bein. – Heulen und Wehklagen habe ich hier genug, da muss ich nicht extra auf den Rossmarkt gehen.«
    Mechthild schüttelte ungehalten den Kopf. »Ach, du alte Stubenhockerin, dann gehen wir halt alleine«, verkündete sie und ließ die Tür in die Angeln fallen.
    Ein paar Stunden später kehrte sie begeistert zurück.
    »Die Predigt des Geißlerführers war das Ergreifendste, was ich je gehört habe«, schwärmte sie in den hellsten Tönen. »Alle Menschen auf dem Rossmarkt haben geweint. Von ihm geht so etwas Erhabenes aus, nicht wahr, Ronaldus?« Ihr Verlobter, der sich

Weitere Kostenlose Bücher