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Das Geheimnis der Totenmagd

Das Geheimnis der Totenmagd

Titel: Das Geheimnis der Totenmagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Neeb
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Stadt bekannt. Flugblatthändler sorgten dafür, dass die Nachricht von dem grausigen Verbrechen zu Frankfurt am Main ins ganze Land getragen wurde.
     
    König Tod
    Barfuß, in raues Sackleinen gewandet und Asche auf dem Haupt, unentwegt Gebete murmelnd, zog die von Tag zu Tag immer zahlreicher werdende Büßerprozession vom Westerwald in Richtung Limburg. Männer, Frauen, Kinder mit verfilzten Haaren, die sich manche in heiliger Ekstase sogar büschelweise ausrissen, trugen in den Händen Kerzen oder einfache Holzkreuze, einige um den Hals auch den Henkersstrick. Ihre Kutten waren auf Brust und Rücken zerrissen und blutdurchtränkt von der ohne Unterlass vollzogenen Selbstgeißelung.
    Allen voran und nackt bis zum Gürtel marschierte ich als ihr Anführer und wurde nicht müde zu verkünden, dass nur denjenigen Erlösung zuteil werde, die den Tod nicht fürchteten und offenen Herzens bereit seien, das Jammertal des Lebens hinter sich zu lassen wie dereinst Jesus Christus, der sich fügsam seinen Peinigern ergeben hatte. Zur Untermalung peitschte ich mir den nackten Oberkörper mit einer neunschwänzigen Lederpeitsche, deren Enden mit Metallspitzen versehen waren. Auf dem Haupt trug ich, ganz wie der Schmerzensreiche, eine Dornenkrone. Für meine vielleicht zweihundert Anhänger war ich der Erlöser, sie hatten mir untertänigen Gehorsam gelobt.
    Um ihren sündigen Leib abzutöten, verbot ich ihnen, sich zu waschen, die Kleider zu wechseln oder ihre Wunden zu versorgen. Sie mussten lernen, ihre Körper und damit auch ihre Triebe zu verachten. Frauen sollten aufhören, der Hoffart zu frönen, sich nicht mehr putzen und frisieren. Die Männer rasierten sich nicht, und allen war untersagt, einen Kamm bei sich zu tragen oder sich die Finger- und Fußnägel zu schneiden. Ihre Nachtlager mussten sie, um den Leib zu züchtigen und abzuhärten, auf steinigem Boden aufschlagen und dabei auf Decken und Kissen, oder was sonst noch der Bequemlichkeit gedient hätte, gänzlich verzichten. Frauen mussten, getrennt von den Männern, am Ende der Bußprozession gehen. Männer und Frauen sollten nicht miteinander sprechen, geschweige denn geschlechtlich miteinander verkehren.

9
    Anna Stockarn seufzte, ergriff das kleine, in helles Ziegenleder gebundene Buch, das schon seit Tagen in der Schublade ihres Schreibtischs lag, und drückte es liebevoll an ihre Brust, ehe sie es aufschlug.
    »Verzeih mir, Tausendschönchen«, flüsterte sie und strich zärtlich mit den Fingerspitzen über die erste Buchseite.
    Seit Tagen rang sie mit sich, ob sie es sich anmaßen durfte, im Tagebuch ihrer Schwester zu lesen. Mechthild hatte das Büchlein früher immer gehegt und vor allen neugierigen Blicken sorgfältig verborgen. Aber auch wenn Mechthilds Mörder inzwischen überführt worden war und seiner gerechten Strafe harrte, erschien Anna der Tod ihrer Schwester noch immer rätselhaft, und sie erhoffte sich von der Lektüre ihres Tagebuchs Aufschlüsse über das, was in dieser Nacht vor Allerheiligen wirklich geschehen war.
    Das Seltsame war, dass Mechthild noch in jener Nacht zu Anna ins Zimmer gekommen war. Sie sah ihre Schwester noch vor sich, die großen glasigen Augen in dem bleichen, ausgezehrten Gesicht, in denen sich eine arge Bedrängnis spiegelte.
    »Was ist mit dir, Schwesterlein? Geht es dir nicht gut?«, hatte Anna sie gefragt. Mechthild öffnete den Mund und schnappte hektisch nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, brachte aber zunächst kein Wort heraus. Anna hatte das deutliche Gefühl, dass die Schwester ihr etwas sagen wollte, was sie nicht über die blassen Lippen brachte.
    »Nein, nein«, presste Mechthild schließlich hervor. »Es ist alles in Ordnung … Ich … ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen!«
    Anna war erstaunt, eine solche Anwandlung hatte sie bei ihrer Schwester schon seit langem nicht mehr erlebt. Was war nur mit ihr los? Sie schien ergebnislos mit sich zu ringen. Ach, wenn sie sich mir doch nur offenbart hätte, vielleicht hätte ich ihren Tod noch verhindern können …
    Einer Gefühlsaufwallung folgend, war Anna auf ihre Schwester zugegangen und hatte sie in die Arme geschlossen. Sie war so klein und abgemagert wie ein krankes Vögelchen. Anna stiegen die Tränen in die Augen. Ich hatte fast Angst, sie zu erdrücken. In ihren Armen hatte sich Mechthild sofort versteift und die Berührung apathisch über sich ergehen lassen, ohne sie zu erwidern. Erst auf der Türschwelle war sie noch einmal stehen

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